Gauß: Eine Biographie (German Edition)
der von Riemann vorgetragenen Gedanken ausgesprochen» [Lau: 34]. Weber ist seit der Revolution von 1848 wieder ordentlicher Professor in Göttingen und Gauß in tiefer Freundschaft verbunden. Da es die letzte Vorlesung ist, die Gauß als Gutachter besucht, lässt sich eigentlich kaum ein würdigerer Abschluss seiner Universitätskarriere denken als die Begeisterung über die Veredelung seiner über Euklid hinausweisenden Idee.
Immer wenn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der führenden oder aufstrebenden jungen Mathematiker Europas einen theoretischen Durchbruch – die Idee seines Lebens – verkünden will, muss er nach der Veröffentlichung fürchten, der große Gauß in Göttingen könne sich noch zu Wort melden. Womöglich lässt der dann en passant die Bemerkung fallen, er selbst habe sich auf der Schwelle zu Pubertät und Französischer Revolution, spätestens aber seit Mitte der 1790er Jahre ausgiebig mit dieser Angelegenheit befasst und es nicht für nötig erachtet, darüber zu schreiben, weil sie doch jedem, der nur einen Funken mathematischen Verstand besitze, sofort ins Auge springen müsse. Wendeten denn nicht alle seine Kollegen schon längst dieses «zierliche» Verfahren mit denselben ausgezeichneten Resultaten an, wie er selbst es bereits seit vielen Jahrzehnten … nein …? Was die Konkurrenz obendrein nervt: Gauß erhebt mit diesem Gestus zwar indirekt einen Prioritätsanspruch, scheint es aber überhaupt nicht nötig zu haben, seine Erstentdeckung durch Schriftliches nachzuweisen. Man hat ihn gefragt. Er hat Bescheid gewusst. Das muss doch genügen. Mit dieser Haltung hat er die Kritik derer auf sich gezogen, die ihn verdächtigen, die neuen Gedanken als seine eigenen auszugeben. Erst als fünfzig Jahre nach seinem Tod sein mathematisches Tagebuch gefunden wird, stellt sich heraus, dass seine Prioritätsansprüche gerechtfertigt gewesen sind.
In seinen Briefen gibt es vielerlei Hinweise und Andeutungen über die nichteuklidische Geometrie. So schreibt er beispielsweise 1824 – in diesem Sommer hat er im Großraum Bremen seine Lichtdreiecke gezogen – an den Mathematiker Franz Anton Taurinus in Köln: «Die Annahme, dass die Summe der 3 Winkel kleiner sei als 180 Grad, führt auf eine eigene von der unsrigen (Euclidischen) ganz verschiedene Geometrie, die in sich selbst durchaus konsequent ist, und die ich für mich selbst ganz befriedigend ausgebildet habe, so dass ich jede Aufgabe in derselben auflösen kann» [Hab: 121]. An eine Veröffentlichung seiner alternativen Geometrie denkt er jedoch nicht. Gauß fürchtet das Geschrei der Denkfaulen, wie er wiederholt vertrauten Menschen gegenüber bekennt. Er will vermeiden, mit einer Infragestellung der euklidischen Geometrie beim Wissenschaftsestablishment anzuecken. Das kann und will er sich offenbar nicht leisten. Was aber auch bedeutet, dass hoffnungsvolle junge Mathematiker nicht auf seine öffentliche Unterstützung für ihre eigenen unkonventionellen Abhandlungen hoffen dürfen. Selbst wenn Gauß ihre Grenzüberschreitungen für gelungen hält. Taurinus, der ein paar lobende Zeilen von Gauß erwartet und nicht bekommen hat, geht dann zwar mit seiner Arbeit tatsächlich unter. Nicht aber im Geschrei der Denkfaulen, wie Gauß befürchtet hat, sondern ganz profan wegen des Desinteresses der Mathematikergemeinde.
Dramatische Züge nimmt die Gauß’sche Rezensionspolitik im Fall von Johann Bolyai an, dem Sohn seines Jugendfreundes Wolfgang Bolyai. Der hat 1816 bei Gauß angefragt, ob er den fünfzehnjährigen Johann nicht für drei Jahre in sein Haus aufnehmen und unterrichten könne. Auf diese Zumutung hat Gauß nicht einmal geantwortet. 1816 ist sein zehnköpfiger Haushalt gerade in die neue Sternwarte umgezogen. Nach weiteren 16 Jahren beidseitigen Schweigens schickt der stolze Vater 1832 eine Arbeit seines Sohnes über nichteuklidische Geometrie nach Göttingen. Dieses Mal antwortet Gauß prompt. Zwar ist er angetan von den Ideen Johann Bolyais. Allerdings zieht er daraus völlig überraschende Konsequenzen: «Wenn ich damit anfange, ‹dass ich solche [nämlich die Arbeit Johanns] nicht loben darf›: so wirst Du wohl einen Augenblick stutzen: aber ich kann nicht anders; sie loben hiesse mich selbst loben: denn der ganze Inhalt der Schrift, der Weg, den Dein Sohn eingeschlagen hat, und die Resultate zu denen er geführt ist, kommen fast durchgehends mit meinen eigenen, zum Theile schon seit 30 – 35 Jahren angestellten
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