Gauß: Eine Biographie (German Edition)
flüchtiges buntes Feuerwerk am Abteilfenster auf. Die Illusion ist perfekt, da gleichzeitig aus Böllern am Ortseingang Freudenschüsse zur Begrüßung der Eisenbahn abgegeben werden.
Auf dem Bahnsteig werden die Ehrengäste von den «fröhlichen Fanfaren» des Göttinger Husaren-Musikcorps begrüßt. Inzwischen hat sich der harte Kern der Göttinger Eisenbahnenthusiasten dicht um die beiden zischelnden Lokomotiven versammelt und die sichtlich stolzen «Wagenlenker» in Fachsimpeleien verwickelt.
Etwas abseits dieser Traube aufgeregter junger Männer steht ein 45 Jahre alter Mann mit seinem zweieinhalbjährigen Sohn an der Hand auf dem Bahnsteig. Es ist Baron Wolfgang Sartorius von Waltershausen, Professor für Mineralogie und Geologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihn lassen Feuergeruch und Dampfwolken der Eisenbahn ziemlich kalt, denn er beschäftigt sich beruflich mit ganz anderen Dimensionen von Feuer und Qualm. Seine große Leidenschaft gilt dem Ätna, dem größten europäischen Vulkan auf Sizilien. Vor zwanzig Jahren begann er vor Ort und auf eigene Kosten mit ersten topographischen Vermessungen und geologischen Untersuchungen.
Neben Sartorius von Waltershausen steht ein kurzatmiger älterer Herr im grauen Gehrock, leicht vornübergebeugt und mit einer Hand auf seinen Spazierstock gestützt. Er trägt ein helles, seidenes Halstuch und auf dem Kopf ein schlichtes Käppchen aus schwarzem Samt. Mit dem Baron und dessen Sohn hat er das Bahnhofsgelände, die Gleise und das Herannahen des Zuges aus verschiedenen Perspektiven beobachtet. Die Anstrengung des Gehens steht ihm ins blasse Gesicht geschrieben, dennoch sind ihm Neugier und Freude über das große Ereignis deutlich anzumerken. Er ist 77 Jahre alt und weiß seit einem halben Jahr, dass er an einer unheilbaren Herzerweiterung und Brustwassersucht leidet. Es wird sein letzter Sommer sein und dieser 31. Juli 1854 der letzte Tag, an dem die Göttinger Bürger ihren weltberühmten Professor und Hofrat in halbwegs stabiler körperlicher Verfassung in der Öffentlichkeit sehen können. Carl Friedrich Gauß nimmt heute Abschied von der Welt, doch weder er selbst weiß es, noch ahnen es die Menschen, die ihn erkennen und respektvoll grüßen. Er ist mit 72 internationalen Diplomen, Auszeichnungen, Orden und akademischen Ehrenmitgliedschaften überhäuft worden [Dun: 351]. Darunter sind der Orden «Pour le Mérite» und die goldene Copley-Medaille als höchste Auszeichnung der Royal Society London.
Sartorius von Waltershausen ist einer der wenigen engen Freunde von Gauß und weiß natürlich um dessen angegriffenen Gesundheitszustand. Doch das lebhafte Interesse des alten Mannes an der Entwicklung der Eisenbahn – schließlich ist Sohn Joseph Ingenieur und Oberbaurat bei der Königlich Hannöverschen Eisenbahndirektion – hat den Festverwurzelten, der vor zwanzig Jahren das letzte Mal nicht in Göttingen übernachtete, erst Mitte Juni zu einem anstrengenden Tagesausflug angeregt. Dabei sind er und seine Tochter Therese nur knapp einer schweren Verletzung entgangen. Bei dieser Kutschfahrt zu Bahngleisarbeiten zwischen Göttingen und Kassel haben beim Herannahen einer pfeifenden und zischenden Lokomotive die Pferde gescheut. Die Kutsche kippte um, wobei der Kutscher ernstlich verletzt wurde. Gauß und seine Tochter kamen mit dem Schrecken davon.
Mit dem verlorenen Sohn Eugen hat er sich doch noch ausgesöhnt. Der hat sich im Bundesstaat Missouri als Pelzhändler, Versicherungsangestellter und selbständiger Müller versucht, bevor er sein Zahlentalent doch noch praktisch umgesetzt hat und mit der Gründung der First National Bank ein wohlhabender und angesehener Bürger geworden ist. Auch Wilhelm bringt es nach einigen Umwegen später im Schuhwarengroßhandel zu beachtlichem Wohlstand. Als Farmer hat er schnell gelernt, dass er mit einer Handvoll Sklaven «auch ganz sorgenfrei leben kann und vielleicht etwas jährlich erübrige» [Mac: 115], wie er dem Vater schreibt. Eine siebenköpfige Sklavenfamilie arbeitet für ihn. Er selbst arbeitet jetzt «nur soweit es mir Vergnügen macht … Im Anfange hatte das Leben mit den Negern etwas sehr Unangenehmes … viele unter ihnen [sind] wirklich nur ein Übergang vom Thiere zum Menschen» [Mac: 117]. Offenbar hat der Moralist Carl Friedrich Gauß kein Problem mit dieser Einstellung seines Sohnes.
Sartorius versteht sich, wenn auch vielleicht nur unbewusst, als Sprecher des handverlesenen Göttinger
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