Gauß: Eine Biographie (German Edition)
lebt, ein Buch erschienen. Darin schreibt er: «Die Eisenbahnen sind wieder ein solch bestimmendes Element, das der Menschheit neuen Umschwung gibt … Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um die letztere anständig zu töten! … Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee» [Hei: 478 f.].
Dem beschleunigten, vom allgegenwärtigen Wasserdampf umwölkten Fahrgast drängt sich in diesen jungen wilden Jahren der Bahn die Vorstellung der unbedingten Zusammengehörigkeit von geschrumpftem Raum und gewonnener Zeit auf. An diesem 28 214ten Tag seines Lebens steht der Eisenbahnfan Carl Friedrich Gauß – «Es war indess der letzte Tag, wo wir ihn in leidlichem Wohlsein erblickten» [Wal: 73] – direkt vor dem umjubelten Beschleunigungsmittel, das diese ungewohnten Raum- und Zeitwahrnehmungen auslöst. Albert Einstein wird sechzig Jahre später dieselben Komponenten, Raum und Zeit, zu einer vierdimensionalen Einheit verknüpfen. Daraus entwickelt er sein Konzept der Raumzeitkrümmung, den Inbegriff seiner Allgemeinen Relativitätstheorie. Als Vermesser der norddeutschen Tiefebene hat Gauß ebenfalls eine neuartige Geometrie gekrümmter Flächen entwickelt. Sie ist die Vorläuferin der vierdimensionalen Raumzeitkrümmung. Die sogenannte «Gauß’sche Krümmung» liefert das mathematische Fundament für Einsteins universelle Gravitationstheorie. Sodass wir, nach heutigem Wissen, Carl Friedrich Gauß als einen Urahn der Allgemeinen Relativitätstheorie betrachten können: Einstein preloaded.
Viele Jahre bevor es einen nennenswerten Streckenplan des deutschen Eisenbahnnetzes gibt, überzieht Gauß die Landschaften des Königreichs Hannover mit einem dichten Netzwerk aus Dreiecken, deren Seiten jeweils aneinanderstoßen. Er ist der erste Landvermesser, dem es gelingt, mit einem raffinierten System aus Fernrohr und Spiegeln die Sonne selbst als freie Mitarbeiterin zu verpflichten und die Zielpunkte über Dutzende Kilometer hinweg mit den eingefangenen Strahlen ihres Lichts anzuvisieren. So entsteht ein unsichtbares Gefüge aus virtuellen Lichtdreiecken, das zwar die abstrakte Fläche des Königreichs Hannover abbildet, aber die räumliche Wirklichkeit der friesischen Marschen und Moore, der Lüneburger Heide und der schroffen Harzlandschaft nur ungenügend widerspiegeln kann. Aus der Einsicht, dass die Regeln der Schulbuchgeometrie im Wald und auf der Heide nicht mehr anwendbar sind, entwickelt Gauß ein mathematisches Verfahren, mit dessen Hilfe er die flachen Lichtdreiecke seiner Landvermessungen in sogenannte sphärische Dreiecke auf der gekrümmten Erdoberfläche umrechnen kann und so der physikalischen Wirklichkeit gerechter wird. Diese neuartige mathematische Struktur weicht allerdings in entscheidender Hinsicht von den Lehrsätzen der euklidischen Geometrie ab, die seit mehr als 2300 Jahren wie in Granit gemeißelt sind. So muss beispielsweise die Winkelsumme eines normalen Dreiecks in der flachen Geometrie stets 180 Grad betragen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es gleichschenklig, gleichseitig, rechtwinklig oder spitzwinklig ist. Die drei Winkel addieren sich immer zu 180 Grad. Bei einem sphärischen Dreieck trifft diese Regel aber nicht mehr zu.
Stellen wir uns das größte denkbare Exemplar eines solchen Dreiecks auf einer Kugel vor. Die größte Kugel ist der Planet selbst. Im ostafrikanischen Uganda verläuft der Äquator mitten durch den Viktoria-See. Auf gleicher Höhe gibt es eine namenlose, mondsichelförmige Insel. Sie ist unbewohnt und 33 Hektar groß. Nehmen wir an, wir könnten vom Mittelpunkt der Insel aus entlang eines halben Meridians bis zum 10 000 Kilometer entfernten Nordpol blicken. Von dort aus schauten wir anschließend bis tief in den nordbrasilianischen Dschungel hinein. Der Zielpunkt ist nicht weit von der Grenze zu Surinam entfernt und liegt exakt auf Äquatorhöhe in ebenfalls 10 000 Kilometern Entfernung zum Nordpol. Die dritte Strecke liefe nun von hier aus in östlicher Richtung auf dem Äquator dahin und über den Atlantik hinweg, bis der Ausgangspunkt auf der namenlosen Insel im
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