Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Dezimalstellen im Kopf gehabt haben. In den Tabellen sind die Logarithmen für rund 3500 Zahlen zwischen 1 und 10 007 aufgelistet und mit einer Genauigkeit von 48 Dezimalstellen wiedergegeben. Ein Beispiel soll die Gedächtnisleistung verdeutlichen. So wird der Logarithmus von 8111 mit 9,000976 … angegeben. Es folgen noch 42 weitere Dezimalstellen in sieben Blöcken mit je sechs Ziffern. Der letzte Eintrag in der Tabelle ist der Logarithmus von 10007 = 9,211239 … (plus 42 Dezimalstellen). Zwischen 8111 und 10 007 werden die Logarithmen von 220 Zahlen angegeben. Wenn die Legende vom Auswendiglernen stimmt, wird er von jedem Wert mit Sicherheit die ersten sechs Stellen nach dem Komma im Kopf gespeichert haben müssen, um angesichts der 220 Zahlen zwischen 9,000976 und 9,211239 die Übersicht zu bewahren. Aber die logarithmischen Werte allein nutzen ihm nichts, wenn er sie nicht auch einer der 3500 Zahlen von 1 bis 10 007 zuordnen kann. Diese Verknüpfungsfähigkeit sowie das souveräne Überspringen der 6500 unregelmäßig klaffenden Lücken muss er zusätzlich beherrschen.
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So baut er sich systematisch eine Privatbibliothek auf
Die Mathematikerin Martha Küssner [Küs 1 ] und Gauß-Forscher Horst Michling haben sich ausgiebig mit den Büchern befasst, die Gauß im Laufe seines Lebens angeschafft hat. Michling hat sich in seinem Aufsatz [Mic: 15] speziell auf die Bemühungen des jugendlichen Gauß konzentriert, seinen Wissensdurst mit dem systematischen Aufbau einer Privatbibliothek zu stillen. Heute befinden sich die Bücher aus dem Nachlass von Carl Friedrich Gauß in der Universitätsbibliothek Göttingen. Anhand der Signierungen in den erhalten gebliebenen Büchern lässt sich seine Lektüre in den drei Carolinum-Jahren zwischen 1792 und 1795 genauestens verfolgen. So schafft er sich 1793 mindestens 21 Bücher an, im Jahr darauf sogar 25. Da stellt sich natürlich die Frage, wie sich ein mittelloser Jüngling aus «einfachen Verhältnissen» zwei Bücher im Monat leisten kann. Reicht das Stipendium des Herzogs aus, um diese Anschaffungen zu ermöglichen? Oder gibt es noch andere Personen, die ihm regelmäßig ein paar Groschen für seinen Bücheretat zustecken? Womöglich der als Damastwebermeister erfolgreiche Onkel Fritz Benze aus Velpke oder im Verborgenen gebliebene Gönner, die Büttner dazu bewegen konnte, Carls Schulgeld für das Katharineum zu bezahlen.
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kindliches Vertrauen besessen
Außerdem scheint er einen weiteren symbolischen Schritt auf dem Weg der Selbstfindung vollzogen zu haben: Er wandelt seine Vornamen ab. Im Taufregister der St. Katharinenkirche ist er als Johann Friderich Carl Gauß eingetragen. Seit fast zehn Jahren signiert er nun schon seine Bücher mit den unterschiedlichsten Namenszügen. Auch hier geht er kindlich spielerisch vor und passt etwa seine Schreibweise der Sprache des Buches an. So steht beispielsweise in der Cicero-Ausgabe Jo(h)annes Fridericus Carolus Gauß , während sein französisches Wörterbuch der Namenszug Jean Fréderic Charles Gauß ziert und er seine englische Grammatik mit John Frederick Charles Gauß, 1792 Brunswick in Besitz nimmt [Mic: 15 – 38]. Bis 1795 benutzt er vorwiegend die Initialen aller drei Vornamen. Manchmal schwankt er noch zwischen Carl und Karl. Doch in seinem letzten Jahr am Collegium Carolinum verzichtet er auf Johann, stellt Carl an erste Stelle, zieht im Friderich das «e» vor das «d» und nennt sich bis an sein Lebensende nur noch Carl (Karl) Friedrich Gauß. Johann verschwindet 1795 für immer aus seinem Leben. Dafür bekommt er zehn Jahre später Johanna, seine erste Frau.
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als Newton seine neue Mathematik des Werdens «Fluxionsmethode» nannte
Allerdings war das «Infinitesimalkalkül» von Gottfried Wilhelm Leibniz von größerer Bedeutung für den technischen Wandel. Sein 1684 entwickeltes Verfahren zur Berechnung kontinuierlicher Veränderung und zeitverschlingender Prozesse baute auf sogenannten infinitesimalen Mustern auf, also auf unendlich kleinen Annäherungsschritten an eine gesuchte Größe. Ohne diese Mathematik hätte James Watt die Dampfmaschine in ihrem variablen Zusammenspiel minimalen Energieeinsatzes und maximaler Wirkung wahrscheinlich nie so effizient konstruieren können. Das Infinitesimalkalkül war eine elegantere Version der Newton’schen Differenzialrechnung. Beide hatten ihre Methode unabhängig voneinander entwickelt. Wegen Newtons Geheimniskrämerei nach dem Ideensturm von 1666 aber konnte
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