Gauß: Eine Biographie (German Edition)
ungeweihte Hand hat ihn berührt, – die letzte fromme Pflicht. Wir betteten ihm sein stilles Lager, wir legten ihn selbst darauf und bekränzten mit frischem Lorbeer und den Blumen des Frühlings sein edeles Haupt …» Indes sieht es so aus, als habe die priesterliche Anmaßung, «ungeweihte Hände» vom Körper des Toten ferngehalten zu haben, eher der Vertuschung der wahren Geschehnisse gedient.
Obduktionsleiter Fuchs und Leibarzt Baum müssen bei der Hirnentnahme daran denken, dass am nächsten Tag der Leichnam in der Sternwarte feierlich aufgebahrt werden soll. Bei dieser Vorgabe wird das Routinehandwerk plötzlich zum Wagnis. Sartorius merkte an: «Es wollte uns scheinen, als ob zur Feier dieser ernsten Stunde die Gesichtsbildung des Todten einen andern Ausdruck angenommen hätte … Die Großartigkeit seiner Züge hatte die frühere Milde verdrängt» [Wal: 75 f.]. Kein Wunder, dass die Physiognomie etwas aus den Fugen gerät, wenn die Kopfhaut bis über die Augen hinuntergeklappt, der Schädel aufgesägt und das Gehirn herausgeschnitten worden ist. So dient der Lorbeerkranz hier auch nicht in erster Linie der Ehrung des Toten. Im gedämpften Kerzenlicht soll er die Spuren von Skalpell und Knochensäge kaschieren.
Daguerreotypie Carl Friedrich Gauß auf dem Totenbett, 23. 2. 1855
Anmerkungen
Hier werden die mit einem * bezeichneten Textstellen erläutert
7
Was für ein seltsames Spiel.
Der Gauß-Kenner erwartet an dieser Stelle die Anekdote, wie der dreijährige Carl seinen Vater auf einen Fehler bei der Lohnabrechnung hinweist. Sie gehört zum Repertoire jeder Gauß-Biographie und soll die früh zum Ausdruck gekommene Genialität veranschaulichen. Generationen von Biographen, Festrednern und Mathematiklehrern haben die Geschichte nacherzählt, weil angeblich Gauß selbst sie in seinen letzten Lebensjahren immer wieder im Göttinger Freundeskreis zum Besten gegeben haben soll. So jedenfalls hat es Wolfgang Sartorius von Waltershausen in seiner Urbiographie Gauss zum Gedächtnis der Nachwelt überliefert. Der erste Schriftsteller, der – exakt 150 Jahre nach Gauß’ Tod – mit dieser Tradition bricht, ist Daniel Kehlmann. Dass er kein Wissenschaftshistoriker oder Biograph, sondern ein Romanautor ist, dem die Neuinszenierung einer Legende oder Anekdote doch eigentlich keine Bauchschmerzen verursachen sollte, ist besonders pikant. «Leblos und zweitklassig» fühle sich diese Erinnerung an, lässt er Gauß sprechen. «Vielleicht hatte er sie zu oft erzählen hören; sie schien ihm zurechtgebogen und unwirklich» [Keh: 53]. Jeder moderne Neurologe wird bestätigen, dass späte Erinnerungen an die frühe Kindheit zumeist eine unentwirrbare Mischung aus ebensolchen eigenen Zurechtbiegungen, Schönfärbungen, Erzählungen anderer Menschen, Täuschungen und Traumfetzen sind.
Eine kritische Einstellung gegenüber dem raunenden Legendenton dieser und anderer Anekdoten aus der Kindheit von Carl Friedrich Gauß muss ja nicht bedeuten, dass man es einem ungewöhnlich talentierten Dreijährigen nicht grundsätzlich zutraute, einfache Additionen, die der Vater vor sich hin murmelt, parallel im Kopf mitzurechnen und bei einem Fehler laut dazwischenzukrähen. Schließlich haben wir es bei Gauß nicht mit einem «normalen» mathematisch Hochbegabten zu tun, sondern mit einem der größten Mathematiker aller Zeiten, der mit 14 Jahren bereits in einer eigenen Liga rechnen wird.
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nach dem Willen Herzog Ferdinands
Wenn in diesem Buch von Herzog Ferdinand die Rede ist, handelt es sich immer um Carl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig und Lüneburg.
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denkbar einfache Rechnung, die jeder im Kopf lösen könne
Die «5050»-Anekdote ist die wohl populärste Geschichte über Carl Friedrich Gauß und daher aus der Mathematik-Folklore nicht mehr wegzudenken. Doch entspricht sie auch den Begebenheiten? An welcher Stelle schlägt ein zunächst plausibel klingendes, scheinbar historisch verbürgtes Ereignis in ein konstruiertes Heldenepos um? Duktus und Stil werden vom Autor der ältesten Gauß-Biographie vorgegeben. Bemerkenswerterweise berichtet Sartorius 1856, ein Jahr nach Gaußens Tod, nicht explizit von der Aufgabe, die Zahlen zwischen 1 und 100 zu addieren, sondern spricht lediglich ganz allgemein von der «Summation einer arithmetischen Reihe» [Wal: 12]. Auch die nächste Biographie des Braunschweiger Stadtarchivars Ludwig Hänselmann von 1878 [Hän: 16 f.] geht nicht über diese knappe Version hinaus.
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