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Gebannt - Unter Fremdem Himmel

Gebannt - Unter Fremdem Himmel

Titel: Gebannt - Unter Fremdem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Rossi
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dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Ward hatte gesehen, dass sie lebte. Hatte Hess ihn unter Druck gesetzt, damit er den Mund hielt? Trauerte ihre Mutter jetzt gerade um sie? Und was hatte Lumina in der ­E-Mail mit dem Betreff »Singvogel« geschrieben?
    Aria setzte sich, um sich auszuruhen. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie zusammen mit ihrer Mutter in Reverie gewesen war. Ein Vorsingsonntag. So lange sie denken konnte, hatte Aria sich an jedem Sonntag um elf Uhr mit ihrer Mutter im Pariser Opernhaus getroffen – eine Welt mit einer Reproduktion des luxuriösen Palais Garnier. Lumina war immer zuerst dort eingetroffen und hatte auf ihrem Lieblingsplatz in der ersten Reihe auf sie gewartet, aufrecht sitzend und gespannt die Hände im Schoß gefaltet. Sie war jedes Mal gleich gekleidet – in ein elegantes, schwarzes Kleid, eine dünne Perlenschnur um den schlanken Hals, das dunkle Haar zu einem strengen, makellosen Knoten hochgesteckt.
    Auf einer Bühne, die eigentlich für vierhundert Akteure erbaut worden war, hatte Aria dann eine Stunde lang nur für sie gesungen. Sie verwandelte sich in Julia oder Isolde oder Jeanne d’Arc, sang von tragischer Liebe und edlen Zielen und Unverzagtheit im Angesicht des Todes. Mit ihrem dunklen, dramatischen Sopran – nach der französischen Opernsängerin Cornélie Falcon in Fachkreisen auch Falcon genannt – ließ sie die Geschichten lebendig werden, emporsteigen über die vergoldeten Säulen und Samtvorhänge bis hinauf zu einem Fresko mit Engeln in der Kuppel des Saals. Woche für Woche trat sie für Lumina dort auf, weil ihre Mutter während dieser einen Stunde bei ihr war – und das war mehr Zeit, als sie den Rest der Woche für ihre Tochter erübrigen konnte.
    Aria erfüllte Lumina diesen Wunsch, obwohl sie Opern nicht leiden konnte. Sie hasste alles an ihnen – die schwülstige Dramatik, die Gewalt und Lüsternheit. In Reverie war noch nie jemand an einem gebrochenen Herzen gestorben. Verrat führte niemals zu Mord. Solche Dinge passierten einfach nicht mehr, dafür gab es inzwischen die Welten. Die Menschen konnten alles erleben, ohne dabei selbst ein Risiko einzugehen. Heutzutage war das Leben besser als die Realität.
    Ihr letzter Vorsingsonntag mit Lumina war von Anfang an anders verlaufen. Luminas kalte Hand auf Arias nackter Schulter hatte sie wach gerüttelt.
    »Was ist denn?«, hatte Aria gefragt. Ihr Smartscreen zeigte fünf Uhr morgens an. »Was ist passiert?«
    Lumina saß auf dem Rand ihres Betts. Statt ihres üblichen Arztkittels trug sie einen grauen Reiseoverall mit Reflektorstreifen an den Armen. Trotzdem sah sie immer noch elegant aus. »Das Transportteam will einem Sturm ausweichen. Ich muss früher weg als geplant.«
    Aria schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie wollte nicht Abschied nehmen. Sie hatten zwar vor, sich jeden Tag in den Welten zu treffen, aber Lumina würde weit weg sein. Sie würden nicht mehr in der gleichen Biosphäre leben.
    »Singst du mir jetzt vor?«
    » Jetzt , Mom?«
    »Ich freue mich schon die ganze Woche darauf«, sagte Lumina. »Lass mich nicht bis nächsten Sonntag warten.«
    Aria warf sich mit dem Gesicht nach unten auf ihr Kissen. Oper gleich am frühen Morgen? Der reinste Horror. »Warum musst du denn weg? Wieso kannst du deine Forschungen denn nicht einfach in den Welten betreiben?«
    »Für diesen Auftrag muss ich persönlich nach Bliss reisen.«
    »Und warum kann ich nicht mit dir kommen?«, fragte Aria.
    »Du weißt, dass ich dir das nicht erzählen darf.«
    Aria drückte ihr Gesicht noch tiefer in das Kissen. Wie konnte ihre Mutter so gelassen damit umgehen? Anscheinend fiel es ihr sehr leicht, Aria bestimmte Dinge vorzuenthalten.
    »Bitte«, bat Lumina. »Ich habe nicht viel Zeit.«
    »Also gut.« Aria rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Bringen wir es hinter uns.« Sie suchte nach der Opernhauswelt auf ihrem Smartscreen. Eigentlich hätte das Icon die Säulenfassade des Opernhauses zeigen sollen, doch Aria hatte stattdessen ein Bild von sich selbst gewählt, auf dem sie so tat, als erwürge sie sich. Als sie es gefunden hatte, wählte sie es an, bilokalisierte sich, und im nächsten Moment betrat ihr Geist eine andere Welt. Sie war jetzt an zwei Orten zugleich – hier in ihrem engen, kleinen Zimmer und dort, in diesem extravaganten, kuppelartigen Opernbau.
    Aria hatte sich entschieden, ihren Auftritt hinter dem Thea­tervorhang zu beginnen. Wütend starrte

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