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Gebannt - Unter Fremdem Himmel

Gebannt - Unter Fremdem Himmel

Titel: Gebannt - Unter Fremdem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Rossi
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auf dem Leder Die Odyssee gelesen hatte – kein gutes Omen für ihre Reise. Bis jetzt aber hatte sie noch keine Sirenen oder Zyklopen gesehen … nur buschreiches Hügelland, gelegentlich von Baumgruppen durchbrochen. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass es hier draußen vieles gab, wovor sie Angst haben müsste, doch das furchterregendste Wesen weit und breit war ihr Reisegefährte.
    Gegen Mittag verbrachten sie eine geschlagene Stunde damit, mit flachen Steinen ein Loch in die Erde zu graben. Irgend­wie hatte der Außenseiter einen Fußbreit unter dem Erdboden Wasser gefunden. Sie füllten ihre Trinkschläuche und aßen schweigend ein paar Trockenfrüchte. Nach der Mahlzeit blieben sie noch eine Weile sitzen, während der Äther ruhig über ihnen dahinströmte. Der Außenseiter warf einen prüfenden Blick hinauf in den Himmel, so wie er es schon den ganzen Tag getan hatte. In der Art und Weise, wie er den Äther studierte, lag etwas sehr Intensives – als könnte er aus den Bewegungen am Himmel eine Bedeutung herauslesen.
    Aria breitete ihre Steinsammlung vor sich aus. Sie war mittlerweile auf fünfzehn Exemplare angewachsen. Unter ihren Fingernägeln entdeckte sie Erde. Waren ihre Nägel länger geworden? Das konnte nicht sein. Normalerweise wuchsen Nägel doch nicht: Nagelwuchs galt als rückschrittlich und überflüssig, daher hatte man ihn in den Biosphären abgeschafft.
    Der Außenseiter holte einen anderen flachen Stein aus seinem Lederbeutel und begann, sein Messer damit zu schärfen. Aria beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Seine breiten, grobknochigen Hände zogen die Klinge gleichmäßig und ­sicher über die glatte Oberfläche. Das Metall zischte in einem regelmäßigen Rhythmus. Arias Blick wanderte weiter nach oben: Das Tageslicht fiel auf den zarten, blonden Flaum auf seinem Kiefer. Gesichtsbehaarung war ein weiteres Merkmal, das die Genforscher beseitigt hatten. Der Außenseiter hielt inne. Er schaute kurz hoch, wobei seine grünen Augen aufblitzten. Dann verstaute er seine Sachen, und sie machten sich wieder auf den Weg.
    Das andauernde Schweigen führte dazu, dass Aria ihren Gedanken nachhing, die sich im Kreis drehten und sie nicht besonders fröhlich stimmten. Ihre Begeisterung über die Wiedervereinigung mit ihrem Smarteye war verebbt. Am Tag zuvor hatte sie versucht, sich abzulenken, indem sie das Land der Außenseiter studierte, aber das funktionierte nun nicht mehr. Sie vermisste Paisley und Caleb. Sie dachte an ihre Mutter und fragte sich, was wohl in der Nachricht an »Singvogel« gestanden hatte. Sie machte sich Sorgen, ihre Füße könnten sich infizieren. Und bei jedem Stich ihrer Kopfschmerzen fürchtete sie, das könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, an der sie bald sterben würde.
    Aria wollte sich wieder wie früher, wieder wie sie selbst fühlen: wie ein Mädchen, das der besten Musik in den Welten nachjagte und ihre Freundinnen mit Gequatsche über nichtige Dinge langweilte. Hier war sie ein Mädchen mit ledernen Bucheinbänden als Schuhen an den Füßen. Ein Mädchen, das gezwungen war, mit einem stummen Barbaren über endlose Hügel zu wandern, wenn sie auch nur den Hauch einer Überlebenschance haben wollte.
    Sie ersann eine Melodie, die zu der Gefühlsmischung aus Angst und Hilflosigkeit passte, die in ihr brodelte: eine schwermütige, schauerliche Melodie, die ihr Geheimnis blieb, nur in der Stille ihrer Gedanken gesungen. Aria verabscheute die Melodie. Noch mehr verabscheute sie die Tatsache, dass sie sie unbedingt brauchte. Sobald sie Lumina gefunden hatte, würde sie diesen jämmerlichen Teil von sich selbst in die Wüste schicken, wo er hingehörte – das schwor sie sich. Diese traurige Melodie wollte sie nie wieder im Ohr haben.
    Am Abend sank sie bereits zu Boden, noch bevor der Außen­seiter das Feuer entfacht hatte. In die blaue Fleecedecke eingehüllt, ließ sie ihren Kopf auf seinen Lederbeutel sinken, weil ihr Bedürfnis nach einem Kissen größer war als ihre Furcht vor Schmutz.
    Nie zuvor hatte sie solche Schmerzen gehabt. Nie zuvor war sie derart müde gewesen. Sie hoffte inständig, dass es sich nur um Müdigkeit handelte und nicht um tödliche Erschöpfung.
    Am Morgen ihres dritten Reisetags teilte der Außenseiter den letzten Rest der Lebensmittel auf, die er aus der Höhle mitgenommen hatte. Beim Essen vermied er wie immer jeden Blickkontakt mit ihr. Aria schüttelte den Kopf. Er war ungehobelt und kühl und auf gespenstische Weise

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