Gebieter des Sturms (German Edition)
hergeholt, aber sie war bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Tiago packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. Seine magische Energie, die sie seit ihrer Ankunft keinen Augenblick losgelassen hatte, hüllte sie jetzt ganz und gar ein, wie ein unerschöpflicher Quell von Kraft und Wärme. Mit ruhiger, leiser Stimme sagte er: »Lass dir Zeit!«
Sie nickte, dann sah sie auf und begegnete seinem Blick.
Fest. Unerbittlich. Felswand.
Sie erinnerte sich an das letzte private Gespräch, das sie mit Dragos geführt hatte. Sie waren in seinem Büro gewesen. Die Glastüren und die Jalousien waren geöffnet und ließen die gleißende Morgensonne herein. Der Raum war von heißem gelbem Sonnenlicht und scharfen Windstößen erfüllt.
Sie saßen zusammen, wie sie es im Laufe der letzten zweihundert Jahre so oft getan hatten. Der schwarzhaarige Drache hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, seine Augen leuchteten goldener als die Sonne, die Absätze seiner Stiefel ruhten auf dem Tisch. Sie hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Tischplatte neben seinen Füßen, die Schuhe hatte sie abgestreift.
»Sie übergeben dir vielleicht die Krone, aber die Macht wirst du dir nehmen müssen«, sagte Dragos.
»Das klingt viel leichter gesagt als getan«, murmelte sie, dabei kratzte sie sich am Ohrläppchen. »Ein Rat?«
Dragos zuckte die Schultern. »Geh davon aus, dass du dir Feinde machen wirst. Arbeite daran, Verbündete zu finden. Erwarte nicht, Freunde zu finden. Freunde sind ein Geschenk, das mit der Zeit kommt. Vieles spricht für dich. Du bist diplomatisch, clever und denkst schnell, du kannst Konsequenzen und Nuancen erkennen, und du weißt, wie man Leute überlistet. Aber du hast eine große Schwäche, wenn es darum geht, den Thron zu übernehmen.«
Ihr Gesicht verdüsterte sich. Nur die Götter wussten, was als Nächstes aus Dragos’ Mund kommen würde. Sie konnte ihre Gestalt nicht verwandeln, ihre Schwertkampffähigkeiten waren lächerlich, sie hatte keine Reißzähne oder Klauen, mit denen sie sich hätte verteidigen können. Es hätte alles sein können. »Und das wäre?«
Der Drache sagte: »Du willst gemocht werden.«
Was er ansonsten auch getan oder unterlassen haben mochte – diesen Fehler hatte Urien nie gemacht.
Unbeschreiblich dankbar für die unterstützende, stille Oase, die Tiago ihr verschafft hatte, hob sie nun das Kinn. Wieder lächelte er auf diese fast unmerkliche Weise und drückte kurz ihre Schultern, bevor er zurücktrat.
Das sollte sie zu ihrem persönlichen Motto erklären: Was würde Dragos tun? Sie wandte sich wieder Aubrey und Naida zu – Naida, die offensichtlich beschlossen hatte, ihnen bei ihrem vertraulichen Gespräch Gesellschaft zu leisten.
Niniane sagte: »Vielen Dank, dass Sie die Erfrischungen für uns bestellt haben! Schließen Sie bitte die Türen, wenn Sie hinausgehen!«
Gut, sie war nicht ganz sicher, ob Dragos »bitte« und »vielen Dank« gesagt hätte. Er hatte gerade erst angefangen, im kleinen Kreis mit diesen neuen Wörtern zu experimentieren. Dennoch wurde die Nachricht übermittelt und empfangen. Naida verneigte sich und ging hinaus. Tiago blickte der Dunklen Fae mit ungerührter Miene nach.
Niniane ließ den angehaltenen Atem entweichen. Sie ging zu einem Sessel und setzte sich, ihre Beine waren wieder wie Gummi. Lautlos stellte sich Tiago hinter ihrem Sessel auf.
Aubrey sagte: »Naida meint es gut.«
Sie hob den Blick. Der Dunkle Fae sah sie besorgt an. Sie machte eine verneinende Geste, mit der sie das Geschehene fortwischte, und sagte: »Würden Sie beide sich bitte setzen?«
Überrascht ließ Aubrey den Blick kurz zu Tiago wandern, doch dann nahm er direkt links neben ihr in der Sofaecke Platz. Tiago wählte den Sessel rechts von ihr.
Niniane zog einen Fuß an und betrachtete ihren Schuh. Mit matter Stimme erklärte sie: »Ich war im Palast, als meine Familie ermordet wurde. Tiago weiß es bereits. Diese Reise wühlt eine Menge alter, schlimmer Dinge wieder auf, Aubrey. Wenn ich in die Nähe von etwas komme, das Urien gehört hat – wie vorhin, als ich dieses Zimmer betrat –, möchte ich es in Brand stecken.«
Aubreys Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich hatte keine Ahnung.«
Sie sagte zu ihrem Schuh: »Natürlich hatten Sie das nicht. Woher auch? Bis vor Kurzem wussten Sie nicht einmal, dass ich lebe.«
»Wissen Sie, wie berühmt Sie bei den Dunklen Fae sind?«, fragte er.
Das brachte sie dazu, den Blick zu
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