Gebieter des Sturms (German Edition)
heben und ihn anzusehen. Der ältere Mann betrachtete sie mit einem bittersüßen Gesichtsausdruck.
»Sie waren einfach verschwunden. Es gab keine Leiche, keinen Beweis für Ihren Tod. Man nahm an, dass Sie tot sein mussten, doch es gab immer offene Fragen und das Gerücht, Sie seien am Leben und würden sich irgendwo verstecken. Und eines Tages würden Sie zurückkehren und herrschen. Zunächst war es ein tröstliches Flüstern, eine dieser Gespenstergeschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählt – aber in den letzten Jahrzehnten sind diesem Gerücht sozusagen Zähne gewachsen.«
Ihre Augen verengten sich. »Was meinen Sie damit?«
Aubrey sagte: »Urien und seine Anhänger haben mit dem Sturz Ihres Vaters auf viele Ereignisse reagiert. Eines davon war, dass die Briten den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verloren hatten. Ich stimmte mit Ihrem Vater überein. Wenn eine Veränderung naht, muss man sich selbst verändern, um sich anzupassen. Aber seine Gegner behaupteten, sie wollten den Status quo der Dunklen Fae davor bewahren, von etwas überrannt zu werden, das aus ihrer Sicht eine barbarische Horde Heiden war. In Wahrheit beschützten sie die mächtige Elite der Dunklen Fae und damit sich selbst. Aber mit der Zeit ging das auf Kosten der Gewöhnlicheren unter uns. Sie hätten andernfalls von all den neuen Möglichkeiten profitiert, die diese barbarischen Horden mit sich brachten, und sich besser entfalten können.«
In seinem langen Leben war Aubrey niemals gewöhnlich gewesen, aber Niniane beschloss, nicht darauf einzugehen. Stattdessen sagte sie: »Oh, Sie klingen ja beinahe demokratisch.«
Er lachte. »So weit würde ich vielleicht nicht gehen. Es sei denn, es ist möglich, ein demokratisch gesinnter Anhänger eines gütigen, aufgeschlossenen Herrschers zu sein.« Er wurde wieder ernst: »Jedenfalls wurden die Aufstiegsmöglichkeiten rar, und alle Posten gingen an Uriens engen Freundes- und Anhängerkreis. Als unsere Wirtschaft stagnierte, wurde dieser mit der Zeit immer kleiner. In der Zwischenzeit mussten viele gewöhnliche Leute darunter leiden, und die Fae begannen, mit einer geradezu gefährlichen Sehnsucht von Ihrer Legende zu sprechen. Es machte Urien zornig. Natürlich wissen wir jetzt, dass er die Wahrheit über Sie kannte.«
Grimmig blickte sie ihn an. »Allerdings.«
»Ich habe ihn gehasst«, sagte Aubrey. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir müssen uns alle erst noch daran gewöhnen, dass er tot ist, denn es scheint noch immer gefährlich zu sein, das zuzugeben. Ihr Vater war mir ein guter Freund, und wie so viele andere habe ich Ihre Mutter verehrt.«
Sie lächelte. »Wirklich? Ich nehme an, sie muss eine schöne Frau gewesen sein. Aber daran kann ich mich nicht mehr so gut erinnern. Woran ich mich erinnere, ist, dass sie so lustig und liebevoll war und so lebhaft und dass ein Raum heller wurde, wenn sie ihn betrat.«
»Ja«, sagte Aubrey. »Das alles war sie. Sie wäre sehr stolz auf Sie.«
Ninianes Augenbrauen fuhren in die Höhe, Tränen schossen ihr in die Augen. »Meine Güte!« Sie lachte kurz und rieb sich die Nase. »Glauben Sie das wirklich?«
»Das tue ich«, sagte Aubrey. »Sie haben nicht nur allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt und sind zu einer schönen Frau herangewachsen, Sie haben sich außerdem Fähigkeiten angeeignet und Kontakte geknüpft. Sie haben sich zu jemandem entwickelt, den sie mit Begeisterung auf dem Thron gesehen hätte.«
»Das kann ich nicht beurteilen, aber es bedeutet mir sehr viel, dass Sie das sagen.«
Aus dem Augenwinkel sah sie zu Tiago hinüber. Er lächelte sie an.
»Danke«, sagte sie zu ihm.
»Wofür?«, fragte er. Er hatte sich lang in seinem Sessel ausgestreckt und die Füße gekreuzt; jetzt stützte er die Ellbogen auf die Armlehnen, und seine Fingerspitzen berührten sich.
»Du hast mich heute auf genau die richtige Art unterstützt, in jeder Situation«, sagte sie.
»Es ist ein schwieriger Tag«, sagte er. »Ich versuche zu helfen.« Seine Worte klangen neutral, doch seine magische Energie strich mit rauchiger Zartheit über ihre Wange.
»Das bedeutet mir sehr viel«, sagte sie. Sie richtete ihren schmerzenden Rücken auf und wandte ihre Aufmerksamkeit Aubrey zu, der ihrem Gespräch höchst aufmerksam gefolgt war. »Ich habe eine Tagesordnung für dieses Gespräch. Erstens habe ich versprochen, Ihnen zu erklären, woher ich weiß, dass Dragos und die Wyr nicht hinter dem zweiten Anschlag stecken. Zweitens sollten Sie
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