Gebieter des Sturms (German Edition)
Niniane ging einen Schritt auf sie zu, dann noch einen, und betrachtete die unglaubliche Perfektion ihres Profils vor dem edelsteinfarbenen Hintergrund aus Saphirblau, Rubinrot, Gold und Smaragdgrün, den das Buntglasfenster hinter ihrem Rücken bot. Carlings Reglosigkeit war vollkommen. Ihre langen, dunklen Augen waren starr und leer, die vollen Lippen leicht geöffnet.
Eis kroch Ninianes Rücken hinab. Alle Vampyre konnten in ihrer Stille unheimlich wirken, weil sie nicht zu atmen brauchten. Als Niniane aus ihrem Zimmer gekommen war, waren Rhoswen und der männliche Vampyr bewegungslos gewesen, doch sie hatten eine gewisse Wachsamkeit beibehalten. Sie hatte gespürt, dass sie wahrgenommen wurde.
Carling jedoch schien sich in einem völlig anderen Zustand zu befinden. Sie sah aus wie eine Schaufensterpuppe oder eine Art Stepford-Vampyr, der darauf wartete, dass jemand seinen Einschalthebel umlegte.
Stepford-Vampyr. Wie ekelhaft!
Niniane räusperte sich und sagte lauter: »Carling?«
»Macbeth hatte etwas erkannt«, sagte Carling.
Vor Schreck wäre Niniane beinahe aus der Haut gefahren, doch dann kam sie sich vor wie eine Idiotin. Carling hatte mit ruhiger, abwesender Stimme gesprochen und keine plötzlichen Bewegungen gemacht. Reiß dich endlich zusammen, Dummchen!
Sie fragte: »Was meinen Sie?«
»In seinem Monolog. ›Tomorrow and tomorrow and tomorrow really does creep in its petty pace from day to day‹ – ›Morgen, morgen und dann wieder morgen, kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag‹«, sagte Carling. »Was wird die letzte Silbe auf unserem Lebensblatt sein, und wer wird sie schreiben? Wir alle fragen uns, wann und wie unsere Welt enden wird, egal, wie lange wir leben.«
Ninianes Unbehagen wuchs. Carling schien auf ihren Namen reagiert zu haben, doch ihre Miene wirkte noch immer unverändert abwesend. Sie bezog sich auf Macbeth , als würde sie die Unterhaltung fortsetzen, die im Flur zwischen Niniane und Rhoswen stattgefunden hatte, doch die lag schon Stunden zurück. Etwas stimmte hier nicht, womöglich ganz und gar nicht. Ninianes Magen zog sich zusammen.
In ruhigem, neutralem Ton sagte sie: »Möchten Sie, dass ich Rhoswen für Sie hole?«
Carlings dunkler Blick fiel auf Ninianes Gesicht, und im selben Augenblick war das unbehagliche Gefühl wie ausgelöscht. »Bei allen Göttern, nein«, sagte die Vampyrin mit matter Erheiterung. »Ihre übertriebene Ergebenheit ist so ermüdend.«
Niniane beobachtete Carling. Sie hatte den Eindruck, als sollte sie diese Frage nicht stellen, und doch konnte sie nicht anders: »Geht es Ihnen gut?«
Carling lächelte. »Für eine alte, kranke Frau geht es mir nicht allzu schlecht. Wir Vampyre sind die Aussätzigen unter den Alten Völkern, denn wir sind Menschen, bevor wir infiziert werden, und natürlich sind alle Alten Völker gegen die Krankheit immun. Ich habe mich deshalb immer auf eine irgendwie irrationale Weise mit den Wyr verbunden gefühlt. Als die Aussätzigen und die Ungeheuer unter den Alten Völkern sind wir längst nicht so salonfähig wie der Rest von euch.«
Niniane zog eine Braue hoch. »So gesehen ist niemand von uns salonfähig, Carling.«
Die Vampyrin kicherte. »Wie wahr! Setzen Sie sich, kleine Niniane! Wir konnten unsere Unterhaltung von vorhin nicht beenden, als Ihr Wyr uns so plötzlich unterbrach.«
Er ist nicht mein Wyr.
Aus dem Nichts brandete heftiger Schmerz auf. Sie holte tief Luft und konnte gerade noch verhindern, dass die Worte über ihre Lippen purzelten. Dann flackerte die Erinnerung daran auf, wie Carling den Kopf ihres eigenen Vampyrs abgerissen und ihm fest in die Augen geblickt hatte, während er zu Staub zerfiel. Dennoch trat sie einen Schritt vor und setzte sich in den Sessel, auf den Carling deutete.
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Carling. Sie betrachtete Niniane mit schief gelegtem Kopf.
Niniane blinzelte. » Sie verstehen mich nicht?«
»Ist das so schwierig zu glauben? Sie versuchen keine machtpolitischen Schachzüge in meiner Gegenwart, und ja, manchmal haben Sie Angst, aber unter alledem wirkt es, als würden Sie mich … mögen. Obwohl das weder klug noch ungefährlich ist. Und zugleich sind Sie traurig. Ich finde das rätselhaft.«
Merkwürdig, wie genau Carling Ninianes Reaktion auf sie beschreiben konnte. Niniane lächelte die Vampyrin schief an und blickte dann auf ihre Hände. Sie konnte Carling unmöglich sagen, dass sie die Vampyrin für etwas Kostbares und Erschreckendes hielt,
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