Gebieter des Sturms (German Edition)
aufzubrechen. Mit Sicherheit würde er nicht lange brauchen, um seinen Kram zu packen. Er reiste mit leichtem Gepäck. Abermals griff sie zum Telefon und rief die Rezeption an. Als sich eine Frau mit angenehmer Stimme meldete, sagte sie: »Hallo, hier ist Niniane Lorelle.«
»Hoheit! Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
»Ich versuche, Wächter Black Eagle zu erreichen, aber in der Suite nimmt er nicht ab«, sagte sie. »Haben Sie ihn zufällig vor Kurzem gesehen?«
»Ja, er hat das Haus vor etwa fünfzehn Minuten verlassen«, sagte die Frau.
Dieses Mal war die Enttäuschung niederschmetternd. Sie bedeckte ihre Augen. »Verstehe.«
»Möchten Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?«
Würde er überhaupt ins Hotel zurückkommen, oder war er bereits auf dem Rückweg nach New York? »Ja«, sagte sie mit bleierner Stimme. »Wenn Sie ihn sehen, richten Sie ihm bitte aus, ich müsse mit ihm sprechen. Es ist sehr wichtig.«
Nachdem die Frau versprochen hatte, es auszurichten, legte Niniane wieder auf. Warum sollte er nicht nach New York zurückkehren? Er hatte sie in Sicherheit gebracht, wie er es versprochen hatte. Er hatte so viel für sie getan, und zum Dank hatte sie ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt.
Sie konnte nicht denken, und sie wollte nicht fühlen, also rollte sie sich stattdessen wieder auf dem Bett zusammen und schloss die Augen. Sie musste eingeschlafen sein, denn das Nächste, was sie hörte, war ein leises Klopfen. Rhoswens klare Stimme fragte, ob sie ein Tablett mit Abendessen wünsche.
»Nein«, sagte sie.
Erneut schloss sie die Augen. Sie hörte leise, bizarre Schritte in den dunklen, stillen Palastfluren. Sie stolperte in die Blutlachen der kleinen Leichen ihrer Brüder. Blut hatte einen rohen, fleischartigen Geruch und eine unverwechselbare Konsistenz. Glitschig und klebrig haftete es nach ihrem Sturz an Händen und Knien. Sie rappelte sich auf und rannte vor einer kalten Macht davon, die Jagd auf sie machte. Wie eine unsichtbare Königsboa schnürte ihr diese Macht die Luft ab, während sie sich in der Dunkelheit versteckte und an ihrer eigenen Panik erstickte.
Als sie dann erwachte, war das Schlafzimmer vollkommen dunkel. Orientierungslos tastete sie nach dem Lichtschalter und suchte nach ihrer Armbanduhr. Sie hatte sie zum Abendessen abgelegt, weil sie nicht zu ihrem hübschen roten, rückenfreien Kleid gepasst hatte.
21:30 Uhr. Gnah ! Den Tag zu verschlafen, war ziemlich dumm. Jetzt würde sie die ganze Nacht wach sein. Sie setzte sich auf und starrte auf den Boden. Sie fühlte sich träge und verlangsamt, als würde Sirup in ihren Adern fließen oder als wäre sie halb tot, weil man ihr eine wichtige Arterie durchtrennt hatte und sie im Schlaf ausgeblutet war.
Sie sah das schweigende Telefon auf ihrem Nachttisch an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Oh nein! Nein, das würde sie nicht tun. Leise fluchend stemmte sie sich aus dem Bett, nahm eine Flasche Wasser aus dem kleinen Kühlschrank und verließ das Schlafzimmer. In dieser verdammten Bibliothek musste es doch etwas geben, mit dem sie sich ablenken konnte. Wenn sie kein Buch fand, würde sie sicher etwas zu trinken finden. Vielleicht auch beides.
Sie öffnete die Tür. Zwei Vampyre standen im dunklen Flur, der Mann, den Tiago ins Treppenhaus geworfen hatte, und Rhoswen. Mit ihren empfindlichen Fae-Ohren hörte sie Personen in den anderen Zimmern im Penthouse, die sich leise bewegten. Es klang, als verbrächten die meisten den Abend auf ihren Zimmern. Sie konnte sich gut vorstellen, dass jeder hier nach dem Drama der letzten Tage eine ruhige Nacht begrüßte.
»Brauchen Sie etwas?«, fragte Rhoswen. »Etwas zu essen vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe in die Bibliothek.«
Die blonde Vampyrin verneigte sich. Niniane betrat die Bibliothek, die von einer kleinen Tischlampe und dem Mondlicht, das in Edelsteinfarben durch das Buntglasfenster fiel, schwach beleuchtet wurde.
Zuerst glaubte sie, allein im Raum zu sein. Dann sah sie die reglose, schweigende Gestalt im Sessel. Sie blieb stehen und wäre beinahe wieder gegangen, denn sie war nicht sicher, ob sie an diesem Tag noch mehr Carling verkraften konnte. Doch etwas an dieser vollkommen reglosen Gestalt zog sie an.
Carling trug noch ihren ägyptischen Baumwollkaftan. Die Stiletts hatte sie aus ihrem Haar entfernt, die schmalen Messer lagen jetzt auf dem Beistelltisch neben dem Sessel.
»Carling?«, fragte Niniane.
Die Vampyrin zeigte keine Reaktion.
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