Gebieter des Sturms (German Edition)
für eine rätselhafte Tragödie wie etwa die Ruinen eines historischen Schlachtfelds.
Sie entschied sich für eine Teilwahrheit. »Ich mag Sie tatsächlich, auch wenn ich das vielleicht nicht sollte. Und manchmal werde ich traurig, wenn ich an all die Freunde und Verbündeten denke, die Sie überlebt haben müssen. Ich meine nicht nur Menschen. Menschliche Begleiter zu verlieren, ist schmerzvoll genug. Ich meine Wesen mit unserer Lebenserwartung.«
»Sie haben in Ihrer eigenen Lebenszeit bereits mehr als genug Personen verloren«, sagte Carling mit freundlicher Stimme.
War diese Freundlichkeit eine Illusion? Imitierte Carling menschliches Verhalten, um zu manipulieren oder gesellig zu wirken, oder waren das die zerfledderten Überreste der Menschlichkeit, die noch immer unter diesem exquisiten Äußeren lebte? Niniane seufzte. Sie würde die letzte Wahrheit über Carling nicht enthüllen können. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Sie etwas fragen.«
Carling hob leicht die Finger.
»Warum hassen Sie Tiago?« Die Worte fielen wie Steine in einen Teich und lösten kreisförmige Wellen aus, die sich nach außen hin bis an ein unsichtbares Ufer fortsetzten. Carling rührte sich nicht, doch Niniane wurde es eng um die Brust. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, als sich gespannte Stille zwischen ihnen ausbreitete. Sie sagte: »Ich möchte es nur verstehen.«
Als Carling mit einem verärgerten kleinen Lachen ausatmete, zerbrach die Spannung. »Der Grund liegt schon so lange zurück, dass er kaum noch Bedeutung hat und Tiago sich nicht einmal mehr daran erinnert – was mich nur noch wütender macht. Ich bin ihm einmal in Memphis begegnet.«
»Memphis«, sagte Niniane verblüfft.
Als sie Carling gerade fragen wollte, was in aller Welt Carling und Tiago ausgerechnet nach Tennessee verschlagen hatte, sagte Carling: »Natürlich hieß es damals noch nicht Memphis. Das kam viel später. Damals hieß es Ineb Hedj. Es war die Hauptstadt der gesamten Welt, und bei Sonnenaufgang glänzte die Sonne auf dem Nil wie ein Laken aus gehämmertem Silber, übersät mit Jade und Lapislazuli.«
Niniane hielt den Atem an. »Sie sind ihm in Ägypten begegnet.«
»Ja. Vor sehr, sehr langer Zeit. Tiago war ein Gott, und ich war ein Handelsobjekt. Ich war jung und noch menschlich, und man holte mich wegen meines Aussehens aus der Armut und dem Flussschlamm. Man bot mich einem Gott dar, um ihn dazu zu verleiten, bei unserem Volk zu bleiben. Ich war völlig verzweifelt, doch er sah mich nicht einmal an. Er ging fort, und ich wurde dafür bestraft.«
Während der kurzen, trockenen Erzählung der uralten Geschichte hatte Niniane die Hände fest ineinander verschlungen. Sie sagte: »Das ist furchtbar.«
»Es ist lächerlich«, sagte Carling. »Ich wollte ihn nicht. Ich war nur ein Kind mit einem hübschen Mund, und er jagte mir Angst ein. Ich war froh, dass er ging.«
Sie zwang sich, die Hände zu lösen. »Was geschah danach?«
Carlings volle Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als wäre sie die Mona Lisa der Dämonen und hätte gerade eine Seele verschluckt. »Ich habe mir ein besseres Leben erkämpft«, sagte die Vampyrin. »Ich lernte alles über Gifte und Kriegsführung und Zauberei, ich lernte, über andere zu herrschen, meine Feinde zu vernichten und aus tiefstem Herzen Groll zu hegen. Dann entdeckte ich den Kuss der Schlange, der mich ebenfalls in einen Gott verwandelte, und niemals wieder hat jemand eine Peitsche gegen mich erhoben.«
Der Kuss der Schlange. Niniane starrte sie an. »Sie sprechen von der Zeit, als Sie zum Vampyr wurden?« Carling neigte den Kopf, und in dieser anmutigen, königlichen Geste erkannte Niniane, wie sehr Rhoswen ihre Herrin imitierte. Sie fragte: »Und Tiago hat nie erkannt, was geschehen ist oder wer Sie waren?«
»Nein.« Carlings Miene nahm einen ironischen Zug an. »Aber wenn ich ihn ansehe, will ich ihn trotzdem erwürgen.«
»Es tut mir so leid«, sagte Niniane.
»Kind«, sagte Carling. Der Blick der Vampyrin wirkte eigenartig, irgendwie gelangweilt.
»Es ist mir egal, dass es schon Äonen zurückliegt«, erklärte Niniane mit auflodernder Heftigkeit. »Es ist mir egal, ob es eine kultiviertere Art gäbe, darauf zu reagieren, und ob es für Sie keine Rolle mehr spielt. Es tut mir leid, was dieses Mädchen durchgemacht hat. Es tut mir leid, was das Mädchen, das ich einmal war, durchgemacht hat. Wir sind nicht mehr diese Mädchen, aber ihr Geist lebt noch irgendwo in uns,
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