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Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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wollte sie zu spät in die Kanzlei kommen, schließlich war sie seit sieben Jahren jeden Tag pünktlich gewesen. Pünktlichkeit war eine Tugend.

12
    Eine schlanke Gestalt huscht über die Hausdächer einer nächtlichen Stadt. Mit vollen Lippen flüstert sie Träume von Sehnsucht und Verlangen durch die Schornsteine hinab, ihr Atem riecht nach fernem Meer, Wüste und herauf dämmerndem Gewitter. Unruhig wälzen sich die Schlafenden unter ihren Worten hin und her, sie schnappen nach Luft wie Ertrinkende.
    Er schläft nicht, steht am Fenster. Als er ihre Stimme hört, steigt er hinaus und klettert am Gitter eines abgestorbenen Weinstocks aufs Dach. Oben sieht er sie gerade auf das Nachbarhaus eilen, das mit seinem verbunden ist. Der Mond leuchtet hell. Er folgt ihr, beim nächsten Schornstein wird er sie einholen. Er weiß nicht, was er von ihr will, er weiß nur, dass er sie erreichen muss.
    »Niemand kann mich einholen«, lacht sie und rennt weiter, sie hat ihn bemerkt, ohne sich umzudrehen.
    Er rennt und rennt und rennt, Schweiß läuft ihm von der Stirn und trocknet fest, Tropfen neben Tropfen, so dass sein Gesicht ganz hart und reglos wird wie unter einer Maske aus durchsichtigem Gips. Er atmet so heftig, dass seine Lunge sticht. Doch sein Herz spürt er nicht schlagen, als wäre es aus Stein oder nichts weiter als eine leere Höhlung in seiner Brust. Ganz langsam holt er auf.
    Dann ist die Häuserreihe zu Ende.
    Sie läuft einfach weiter, springt ab und fliegt lachend zehn oder zwanzig Meter durch die Luft, landet jenseits der Straßenschlucht auf einem Haus mit rotem Dach und großem Schornstein.
    Auch er springt. Mit aller Kraft stößt er sich ab, doch der Wind will ihn nicht tragen, die Erde zieht ihn an. Er stürzt, fällt in die Tiefe, hinab in Richtung grauer Straße, auf der ein Bagger auf ihn wartet. Seine Schaufel schwenkt hin und her, schnappt auf und zu, das Maul eines mechanischen Krokodils. Es schnappt mit seinen erdverkrusteten Stahlzähnen nach ihm. Packt ihn und beißt ihn im Sturz entzwei, so dass sein Blut zur Erde spritzt. Es ist tiefschwarz.
    Japsend fuhr Alex hoch, schnappte gierig nach Luft, schlug mit den Armen nach einem eingebildeten Bagger. Dann erkannte er den vertrauten Kleiderschrank, den Stapel ungelesener Bücher auf dem Nachttisch und den alten Wecker mit dem Sprung quer über dem Ziffernblatt. Er lag in seinem Bett, atmete schwer und war schweißnass, aber viel zu müde, um aufzustehen.
    »So ein Schwachsinn«, murmelte er und drehte sich wieder um. Es wurde Zeit, mal etwas Schönes zu träumen. Als er wieder einschlief, hatte er den verblassenden Geschmack von Salz und Sand auf der Zunge.
    Eine heiße Sommernacht in einem Club, der aussieht wie eine romanische Kirche. Dort, wo die Kanzel sein sollte, steht ein goldener Käfig, in dem eine barbusige Frau mit zu Schlangen geflochtenen Haaren und einem Minirock aus Maulwurfsfell tanzt. Ein Bär klammert sich an die Stäbe, bangt wild zu den harten Riffs aus den Boxen und wirft ihr Geldscheine hinein.
    Alex tanzt mit Lisa, ihre roten Lippen sind geöffnet, ihre Finger fahren ihm durchs Haar, und ihr Becken schmiegt sich an seines. Sie will ihn küssen, doch er zerrt ihren Kopf zur Seite und beißt ihr in den Hals, reißt Fleisch von ihren Knochen, spuckt es aus, er ist schließlich kein Kannibale, und leckt das sprudelnde Blut von ihrer bleichen, salzigen Haut.
    Die Tanzenden um sie herum grölen und applaudieren, er kennt sie nicht, fremde Gesichter, lachende Münder, anerkennendes Nicken, das Klatschen wird rhythmisch, viele rufen: »Hey! Hey! Hey!«
    Da taucht seine Mutter zwischen ihnen auf und sieht ihn traurig oder besorgt oder tadelnd an, er erkennt nur, dass ihr Gesicht faltig und grau ist. »Wie kannst du das tun, Junge, wie kannst du das nur tun? Ihr seid noch nicht verheiratet.« Er weiß nicht, was er sagen soll, er möchte weglaufen, aber das Blut schmeckt so gut.
    »Ich bring dich um! Ich bring dich um!«, kreischt Sandy und versucht, sich durch die Menschenmassen zu ihm durchzukämpfen. Doch die Masse tanzt weiter, ineinander verschlungen, immer weiter im hämmernden Rhythmus, und lässt sie nicht hindurch.
    »Bitte«, flüstert Lisa und sieht ihn flehend an, »bitte nicht«, aber er kippt ihren Kopf nur auf die andere  Schulter, beißt ihr auch in die noch unversehrte Halsseite und trinkt gierig ihr Blut.
    Alex erwachte mit trockenem Mund und bitterem Geschmack auf der Zunge, leckte sich verschlafen über die

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