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Gebissen

Gebissen

Titel: Gebissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Koch
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durchschnitt es die Nacht, dass Alex dachte, man müsse es in ganz Berlin als kalten Luftzug spüren. Es drang ihm bis ins Mark, und er hatte keine Zweifel, dass es nicht nur er und die beiden auf der Straße gehört hatten, sondern auch jeder Vampir, der in Lisas Wohnung lauerte, egal, wie dick die Fensterscheiben waren.
    Misstrauisch beäugte er den Zwischenraum zwischen den beiden Dächern. Er durchmaß bestimmt fünfzehn Meter. Im Traum war Alex bei dem Versuch, ihn zu überqueren, gestürzt. Aber wozu war der Vampir dort drüben fähig?
    Alex wollte es nicht darauf ankommen lassen, nicht auf einen Kampf, in dem der andere jeden Augenblick Unterstützung bekommen würde. Er hob den Mittelfinger, drehte sich um und rannte los. Nicht an der Straße entlang, sondern diagonal durch den Häuserblock, quer über Seitenflügel und Hinterhöfe, so mussten seine Verfolger sich trennen, weil sie nicht wissen konnten, auf welcher Straße er rauskommen würde, wenn er schließlich nach unten stieg. Nach den ersten Schritten drehte er sich um, ob der Vampir ihm folgte, ob er die Kluft zwischen den Dächern irgendwie hatte überwinden können. Doch er war verschwunden.
    Ihn erst mal nicht im Nacken zu haben, war gut, obwohl es ihn nervös machte, nicht zu wissen, wo seine Verfolger waren. Und wie viele es waren.
    Irgendwo dort unten vermeinte er Füße über das Pflaster trappeln zu hören.
    Alex stürmte weiter und blickte rechts und links in die Innenhöfe, suchte nach dem geschicktesten Weg hinunter, nach einem Fluchtweg, der die Vampire überraschte. Da entdeckte er eine große, ausladende Kastanie. Schneller kam er wohl nicht hinunter. Er sprang.
    Mit Wucht prallte er ins Geäst, klammerte sich fest und war froh, sich kein Auge ausgestochen zu haben. Die Schrammen und Striemen würden rasch verheilen.
    Schnell hangelte er sich von Ast zu Ast nach unten, ließ sich immer wieder ein Stück rutschen, hörte sein Longsleeve reißen, auch die Hose schien etwas abzubekommen. Aus dem Augenwinkel entdeckte er an der Seitenwand zwischen mehreren Balkons ein graues Ziergestänge für Kletterpflanzen, fast so praktisch wie eine Feuerleiter. Ganz toll, warum hatte er das von oben nicht gesehen?
    Die letzten drei Meter ließ er sich fallen und rollte sich über die frisch gemähte Rasenfläche neben dem Baum ab. Er federte auf die Beine und knickte sofort wieder ein, sank auf das rechte Knie, stützte die Hände auf den Boden. Eine plötzliche Welle der Müdigkeit überlief ihn, zwang ihn, die Augen zu schließen, Sekundenschlaf trotz Adrenalin, und die Mauern der umstehenden Häuser stürzten auf ihn ein.
    Schützend riss er die Arme nach oben, kniff die Augen weiter zu. Blut regnete in Strömen vom Himmel, große, schwere, dunkle Tropfen. Irgendwo in der Ferne schrie Lisa, sie schrie und schrie und schrie, so fern und leise, und doch dröhnten seine Trommelfelle davon wie irr.
    Alex rappelte sich auf, rannte los, torkelte mit ausgestreckten Armen, die Augen noch immer geschlossen. Irgendetwas bohrte sich durch die Erde, lebte unter dem Asphalt und unter der kleinen gepflegten Rasenfläche. Schlangen, Tentakel oder doch nur die Wurzeln der Kastanie? Irgendetwas griff nach seinen Füßen, schlug nach seinen Fesseln. Alex stürzte. Er musste die Augen öffnen, aber er konnte nicht, sie waren von Schlaf verklebt, der wie eine dicke Schicht Leim auf den Wimpern lag, und die Lider waren so furchtbar schwer.
    Was geschah mit ihm?
    Was geschah mit Lisa?
    Noch immer gellten ihre Schreie in der Ferne.
    Mit den Fingernägeln kratzte er über seine Lider, brach den verkrusteten Schlaf von der Haut und riss sie dabei auf. Ein Tropfen Blut rann wie eine Träne über seine Wange, doch endlich konnte er die Augen wieder öffnen. Keine Hauswand war eingestürzt, der Boden lag noch immer friedlich da, der Rasen akkurat geschnitten, nichts hatte sich aus der Tiefe nach oben gewühlt, nicht einmal ein Mauseloch oder Maulwurfshügel war zu sehen. Niemand schrie.
    Alex sprang auf und stürzte durch die geöffnete Tür, die mutmaßlich nach draußen führte. Je länger er wartete, desto mehr Kameraden konnten die Vampire zusammenrufen, umso länger hatten sie Lisa in ihren Fängen. Nur wo, verdammt?
    Jetzt achtete er nicht mehr darauf, keinen Lärm zu machen, er raste einfach den langen Flur mit dem schmutzigen und abgetretenen Fußbodenmosaik und den frisch ausgebesserten Stuckengeln entlang, alberne weiße Puttengesichter mit aufgeblasenen Backen.

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