Gebissen
Badelatschen, den irgendwer auf der Treppe verloren hatte. Dort sprangen sie in den eben einfahrenden Zug nach Süden.
Der Waggon war voll, doch sie fanden noch nebeneinander Platz auf einer der beiden Sitzreihen, die sich an den Wänden des Waggons entlangzogen. Zwar konnte es nicht sein, dass Alex hier auf sie lauerte, trotzdem ließ sie den Blick einmal durch den Wagen gleiten, bevor sie sich setzte.
Kein Alex zu sehen, stellte sie erleichtert fest. Die Scheiben der Bahn waren mit zahlreichen eingravierten Brandenburger Toren verziert, deren Säulen wie die Zähne eines weißen Kamms aussahen. Gravuren, die sie schon mit Alex betrachtet hatte.
Ihr gegenüber saß ein Mann um die fünfzig, der ihr ständig auf die Brust starrte. Sie machte ihre Jacke zu, aber das half nicht, sie saß eng und betonte ihre Figur. Lisa verschränkte die Arme.
»Hey!«, sagte Sandy und starrte den Mann kurz an.
Der wurde sofort rot und sah weg.
»Danke.«
»Das nächste Mal schnauzt du so einen Spanner selbst an«, erwiderte Sandy mit einem knappen Nicken. »Diesem Alex hätte ich nach seinen blöden Sprüchen am liebsten zwischen die Beine getreten, und zwar so fest, dass ich ihm die Eier bis in den Kopf hochgekickt hätte. Da gehören sie schließlich hin, sie sind größer als sein Hirn, und er denkt sowieso mit ihnen. Aber ich war so verdattert von seinem Gesabbel, ich hätte nicht gedacht, dass er mich begrabscht, er muss doch wissen, dass ich dir das sofort erzähle.«
»Vielleicht hätten wir das Zipfelchen seines Voodoo-Shirts abschneiden sollen. Oder mit einer Nadel durchstoßen und ihm wünschen, dass das Ding ganz langsam abfault.«
»Langsam und schmerzhaft. Ein Gefühl wie hundert eiternde Penispiercings.«
»Das hätte er verdient.«
Sie wünschten ihm ein Dutzend ekliger Krankheiten und große rote Pickel zwischen die Beine, ewige Potenzprobleme und ein Leben in Einsamkeit.
»Ich ruf morgen in der Kanzlei an und werde ihn verklagen«, sagte Lisa plötzlich ernst. Wozu studierte sie Jura, wozu machte sie denn ein Praktikum in einer Kanzlei? Um später anderen zu ihrem Recht zu verhelfen, klar, aber sie konnte ja jetzt schon mal mit ihrem Recht anfangen. Dr. Friedrich hatte gesagt, sie könne sie jederzeit um Rat fragen, wenn sie Hilfe brauche. Also würde Lisa fragen - und jeden noch so unbedeutenden Paragrafen finden, gegen den Alex auch nur annähernd verstoßen hatte. Langsam wurde ihr klar, warum er was gegen Jurastudentinnen hatte, gegen Frauen, die sich mit dem Gesetz beschäftigten, das ihm so sehr am Arsch vorbeiging.
Als sie schließlich ausstiegen, wusste Lisa nicht, wo sie waren. Sie erinnerte sich nur, dass sie einmal umgestiegen waren, ansonsten hatte sie auf nichts geachtet, sie war noch viel zu durcheinander und aufgewühlt.
»Und jetzt?«, fragte sie. »Was machen wir hier?«
Sie standen an einem kleinen Seitenausgang einer U-Bahnhaltestelle, das weiße U auf dem blauen Kasten leuchtete über ihnen. Sie hörten das Geräusch fahrender und bremsender Autos, irgendwo hinter den Häusern musste eine größere Straße liegen, doch hier war es ruhig. Ein alter Kombi fuhr mit knarzender Kupplung vorbei, zwei diskutierende Radler, dann war die Straße wieder verlassen, mit ihnen war niemand aus der Bahn hier hochgestiegen. Lisa konnte kein Straßenschild entdecken.
»Jetzt musst du deine Schuhe ausziehen«, forderte Sandy.
»Meine Schuhe ausziehen? Warum das denn?«
»Mach einfach«, sagte Sandy und schlüpfte aus ihren schwarzen Sandalen.
Lisa schüttelte den Kopf, beugte sich aber vor und öffnete langsam die Schnürsenkel. Sie zog die Turnschuhe und Socken aus und sah Sandy fragend an. Unter ihren Füßen war der Boden kühl, und die kleinen Steine pieksten. Sie war das Barfußlaufen auf Asphalt nicht gewöhnt.
»Und? Spürst du’s?«, fragte Sandy und strahlte sie an, als hätte sie ihr eben das größte Weihnachtsgeschenk aller Zeiten überreicht.
»Was soll ich spüren?«
»Den Boden. Ihn.«
»Natürlich spüre ich den Boden. Er ist kalt und rau und voller Dreck und Kiesel.«
»Und spürst du die Erde?«
Was war denn das für eine Frage? Wäre Sandy nicht ihre Freundin, hätte Lisa ihre Schuhe sofort wieder angezogen und sich davongemacht. Aber Sandy hatte auch mit dem Voodoo-Shirt das Richtige geraten, so dämlich es erst geklungen hatte, also würde Lisa auch jetzt einfach mitspielen. Das Ganze hatte sicherlich irgendeinen Sinn. Erde und Dreck, das war doch alles dasselbe, also
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