Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Ruhe lassen und sie warnen, wenn die Deutschen kommen sollten. Vor lauter Schreck schlägt Miriams Herz so kräftig, dass sie das Gefühl hat, es zerspringt gleich. «Wer sind Sie, was wollen Sie?», fragt ihre Mutter durch die verschlossene Tür. Auch Jacob und Lilly stehen im Flur und horchen. Alle haben den gleichen Gedanken: Die Deutschen sind gekommen. «Wohnt hier Miriam Schwarcz?», hören sie eine unbekannte Männerstimme. Niemand antwortet. «Bitte, lassen Sie mich rein, ich heiße Sendrej. Béla Rosenthal schickt mich.» Immer noch misstrauisch, öffnet Laura Schwarcz einen Spaltbreit die Haustür. Der Fremde streckt die rechte Hand aus, in der ein Foto von Miriam und ihrem Verlobten liegt. Der 21-Jährigen wird für einen Moment fast schwindlig vor Freude. Vorgestern, am frühen Morgen, radelte sie heimlich zum Postamt im Dorf und gab dem Mädchen am Schalter ein Geldbündel, damit sie ein Telegramm nach Miskolc schickte. Telefonieren durfte sie als Jüdin nicht mehr. «Das Unkraut ist weiter gewachsen», schrieb sie ihrem Verlobten, «es muss sofort abgeholt werden.» Béla verstand die seltsame Botschaft und schickte diesen Mann. Der Besucher ist erschöpft. Seit zwei Tagen ist er schon unterwegs. Während er hastig isst, erzählt er, dass er im Zug Furchtbares gesehen hat. Die Gendarmen suchen nach Juden und werfen sie aus den Zügen raus. Deshalb konnte Béla nicht selbst kommen und hat ihn gebeten, Miriam nach Miskolc zu bringen. Laura Schwarcz ist entsetzt. Auch Miriam zögert, obwohl sie sich seit Wochen nichts sehnlicher wünscht, als ihren Verlobten zu sehen und ihn endlich zu heiraten. Wie soll sie aber nach Miskolc kommen, wenn doch überall Gendarmen sind? Aber die beiden Männer haben alles gut vorbereitet. Sendrej greift nach seinem Rucksack und holt Dokumente heraus. «Das sind Papiere meiner Tochter Marika. Damit kann Miriam als Nichtjüdin ohne Gefahr mit mir fahren», redet er auf die Mutter ein. Aber sie will davon nichts hören. Auf gar keinen Fall darf ihre jüngste Tochter dieses Risiko eingehen. Sie soll bei ihr bleiben, bei der Familie. Aber Miriam ist entschlossen: Sie will zu Béla, sofort, er wartet auf sie. «Nie werde ich vergessen, wie mich meine Mutter damals anflehte zu bleiben. Sie sagte zu mir, du bist verrückt, in diesen Zeiten heiratet doch keiner. Aber ich war ein junges Mädchen, so verliebt und voller Pläne. Ich konnte nicht anders. Ich bat sie, mich gehen zu lassen. Ich wollte Béla heiraten und bei ihm sein.»
In der Morgendämmerung verlässt sie den Gutshof. Laura Schwarcz will sie nicht aus ihrer Umarmung lassen, Miriam muss sich fast losreißen. Sie ahnt nicht, dass sie ihre Mutter nie mehr sehen wird. Zweieinhalb Monate später wird Laura Schwarcz in Auschwitz-Birkenau vergast. Als Marika Sendrej geht Miriam auf die gefährliche Reise mit einem Mann, den sie erst seit wenigen Stunden kennt. Die Fahrt nach Komárno verläuft ohne Zwischenfälle. Aber als sie die Tür ihres Stadthauses öffnet, erschrickt sie. Möbel sind umgeworfen, manche fehlen, auf dem Boden liegen verstreut Kleider, Zeitschriften, Bücher und zerbrochenes Geschirr. Bleibe nicht alleine über Nacht im Haus, hatte ihre Mutter sie gebeten. Rasch sucht sie ihre schönsten Kleider, Schuhe, Strümpfe und Unterwäsche zusammen und wirft sie in einen großen Koffer. Ihr Begleiter wartet schon ungeduldig in der Halle. Als er den Koffer sieht, schüttelt er heftig den Kopf und wird ärgerlich. «Glauben Sie etwa, Fräulein Miriam, dass wir in einen Kurort fahren? Wissen Sie nicht, was in Budapest los ist? Die Juden dort trauen sich kaum noch auf die Straße.» Aber Miriam lässt sich nicht beirren. Schließlich will sie für die Hochzeit schön sein und ihrem Bräutigam gefallen. Sie nehmen den ersten Schnellzug nach Budapest. Ungarische Gendarmen schauen in jedes Abteil: Sind Juden hier? Juden raus! «Sei einfach still und sag kein Wort», schärft Sendrej Miriam ein, der er ein großes Kreuz um den Hals gehängt hat, als wäre sie eine Christin. Auf dem Kopf trägt sie ein schwarzes Kopftuch. Miriams Angst wächst von Stunde zu Stunde. Fast bereut sie es jetzt, ihre Mutter verlassen zu haben. Sie betet still. Zwei Gendarmen reißen die Tür des Abteils auf und sprechen sie an. Sendrej deutet auf Miriams Ohren: «Sie kann Sie nicht verstehen, meine arme Tochter ist taub.»
In den späten Abendstunden erreichen sie Budapest. Am Bahnhof steigen sie in ein Taxi um. Schon während der Fahrt merkt
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