Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Soldaten in Komárno einmarschierten, ermuntert. Unbekannte warfen Steine in die Fenster des Hauses der Familie Schwarcz in Dunarakpart 52. In der Straße am Donauufer wohnten viele jüdische Familien. Die goldenen Jahre, wie viele tschechoslowakische Juden die Ära der Ersten Tschechoslowakischen Republik nannten, waren vorbei. Seit ihrer Entstehung 1918 war die Tschechoslowakei für die meisten jüdischen Bürger eine Insel der Demokratie in einem von Gewalt erschütterten und antisemitisch geprägten Europa. Gleich drei zionistische Weltkongresse fanden in Prag und Karlsbad statt, bis sich das politische Klima Mitte der 1930er-Jahren verschärfte. Nicht, dass es in der Heimat von Bedřich Smetana und Antonín Dvořák keine Judenfeindschaft gegeben hätte. Aber sie war in diesem liberalen und weltoffenen Land, in dem Juden als Nation und ihre Religion staatlich anerkannt waren, nicht salonfähig wie etwa in Wien oder Budapest. Sogar noch 1938, als in BBC-Radiosendungen immer öfter von Hitlers Eroberungsplänen die Rede war und die ersten Berichte über die katastrophale Lage der österreichischen Juden nach dem sogenannten Anschluss des Landes durchsickerten, blieb Jenö Schwarcz, zumindest äußerlich, gelassen. So etwas wird in der Tschechoslowakei nie passieren, niemals, erklärte er seinen Kindern. Fast empört reagierte er, als ihm ein Verwandter vorschlug, gemeinsam mit ihren Familien nach Honduras auszuwandern. «Warum sollten wir gehen», sagte er, «mein ganzes Leben habe ich gearbeitet, um meiner Familie ein komfortables Leben zu bieten. Wir bleiben hier.» 1939 verließ seine älteste Tochter Ella mit ihrem Mann und zwei Söhnen das Land. Sie schafften es, mit dem letzten Schiff nach Kanada zu kommen. «Wir warten nicht, bis Hitler auch zu uns kommt», sagte Ellas Mann beim Abschied zu seinem Schwiegervater. «Siehst du nicht, dass die Deutschen bereits nach Österreich einmarschiert sind?» Das Schicksal wollte es, dass Jenö Schwarcz nicht mehr erleben musste, wie sechs seiner neun Söhne – zwei waren schon vor dem Krieg nach Palästina ausgewandert, der Dritte nach Kanada – 1944 zum militärischen Arbeitsdienst zwangsverpflichtet wurden. Er starb, bevor die deutsche Wehrmacht 1944 Ungarn besetzte und der Mord an den ungarischen Juden begann.
Miriam kann nicht wissen, dass sie erst nach einer Ewigkeit in deutschen Lagern zurückkehren, aber ihr geliebtes Komárno nicht mehr wiederfinden wird. Noch am Morgen vor ihrer Flucht fühlte sie sich sicher in ihrer Stadt. Sogar vor den ungarischen Gendarmen hatte sie kaum Angst. Häufig genug bemerkte sie zwar die feindseligen Blicke christlicher Slowaken und Ungarn auf den Straßen. Ihre Familie kannte aber doch jeder, und Miriam konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen jemand wirklich etwas Böses antun wollte. Als der Vater noch lebte, verbrachte die Familie jeden Sommer zwei Monate auf ihrem Gutshof auf der Großen Schüttinsel in der Donautiefebene, nur eine Stunde Fahrt von Komárno entfernt. Miriam liebte die unbeschwerten Tage auf dem Gutshof. Fast jeden Tag ging sie mit ihren Schwestern und Cousinen schwimmen. Ein Seitenarm der Donau verlief, keine fünf Minuten Fußweg entfernt, direkt unterhalb des Gutshofes. Stundenlang konnte Miriam den Fischern zuschauen, wie sie ihre Netze auswarfen. Abends bereitete die Köchin Marischka die köstlichen Forellen und Barsche auf dem Grill. Seit einigen Jahren lebten auf dem Familiengutshof Miriams Schwester Lilly mit ihrem Mann und zwei Kindern. Sie bewirtschafteten den Betrieb zusammen mit Miriams Bruder Alex und dessen Frau, die zwei Jungen im Alter von drei und vier Jahren hatten. Jeden Abend rief Alex den Vater an, um ihm über die Arbeit auf dem Hof zu berichten. In Komárno bewohnte die Familie Schwarcz ein Haus mit sechs Schlafzimmern, zwei Bädern und einer großen Küche. Sowohl bei den nichtjüdischen Geschäftspartnern als auch unter den 2170 Juden Komárnos genoss der Gutsbesitzer und Vorsitzende der jüdisch-orthodoxen Gemeinde Jenö Schwarcz großen Respekt. Und das lag nicht nur an seinem wirtschaftlichen Erfolg. Die Gemeindemitglieder schätzten auch die Wohltätigkeit des Ehepaars. Miriams Mutter Laura, die als Kind selbst viel Not gelitten hatte, half Bedürftigen, wann immer sie konnte. «Sie hat häufig arme Leute zum Abendessen eingeladen. Wenn mein Vater am Sabbat von der Synagoge ohne Gast zurückkam, war sie enttäuscht. Mein Bruder Jacob wurde dann gleich losgeschickt, und wir
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