Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Miriam, dass Budapest nicht mehr die Stadt ist, die sie von ihren früheren Besuchen kannte und so mochte. Die Stadt ist voll von Nazis und ungarischen Polizisten, überall hängen Hakenkreuzfahnen. Jüdische Geschäfte haben geschlossen, die Ladenjalousien sind mit antisemitischen Parolen beschmiert. Miriams Schwester Aranka wohnt im Zentrum, direkt gegenüber dem Budapester Opernhaus. Als Miriam an die Tür klopft, denkt sie voller Panik, dass es Deutsche sind. Mit einem Besuch ihrer jüngeren Schwester hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Als Miriam erzählt, dass sie gleich morgen weiter nach Miskolc fahren und dort Béla heiraten will, findet Aranka keine Worte. Ihr Mann sei erst vor einigen Tagen verhaftet worden, sie habe seitdem nichts mehr von ihm gehört, erzählt sie Miriam. In der großen Wohnung sei sie mit ihren zwei Kindern jetzt allein, traue sich nicht mehr hinauszugehen. Verzweifelt bittet Aranka ihre Schwester, bei ihr zu bleiben. «Wir umarmten uns und weinten. Ich fühlte mich so schlecht, war die ganze Zeit hin- und hergerissen. Was sollte ich machen?» Sie verabschiedet sich und geht. Nach nicht einmal drei Stunden fährt der Zug im Bahnhof von Miskolc ein. Ein Taxifahrer bringt Miriam zum Haus ihrer künftigen Schwiegereltern, wo Béla schon ungeduldig auf sie wartet. Alle sind überglücklich. Sie hat es geschafft. Es ist ihr nichts passiert. Am Abend ruft Béla Rosenthal den Rabbiner herbei. Miriam und er wollen jetzt keine Zeit mehr verlieren, sie möchten sofort heiraten. Während sie auf den Rabbiner warten, zieht sich Miriam in ein Nebenzimmer des Hauses von Bélas Familie zurück. Sie kämpft mit den Tränen. Jetzt vermisst sie ihre Mutter und ihre Geschwister so sehr. Sie ist an ihrem großen Tag ganz alleine, ohne Familie, in einer fremden Stadt. Wie kann sie nur ohne sie heiraten? Wie oft hatte sie sich ihre Hochzeit vorgestellt, wie froh und stolz sie jetzt gewesen wäre, wenn ihre Mutter und ihre Geschwister da wären und sie sehen könnten. Viele Gedanken gehen ihr durch den Kopf, als sie mit Bélas Mutter das Haus verlässt, um das rituelle Tauchbad, die Mikwe, zu nehmen. Dann verdrängt sie die schweren Gedanken. Als sie zurückkehrt, wartet Béla, der Mann, den sie liebt, schon ungeduldig. Im Zimmer stehen auch zehn Männer, die für den Hochzeitsgottesdienst notwendig sind. Als sie dann endlich durch die Tür tritt, verstummen alle und schauen sie mit bewundernden Blicken an. Miriam trägt ein schwarzes Kostüm mit einer weißen Blume, auf dem Kopf einen eleganten Hut. Auf einmal ist ihre Traurigkeit verflogen. «Ich war so glücklich, dass ich es kaum beschreiben kann. Béla war neben mir, und ich liebte ihn so sehr. Das war das Einzige, was in dem Moment zählte.» Beide stehen unter der Chuppa, dem weißen Traubaldachin, und lauschen dem Segen des Rabbiners. Während Miriam ihren Geliebten siebenmal umkreist, steigen ihr wieder Tränen in die Augen. Dann aber denkt sie an ihr neues Glück mit Béla. «Ab jetzt wird alles gut.» An dem gleichen Tag, dem 5. April 1944, hat die Budapester Regierung für alle Juden den gelben Stern eingeführt. Miriam versteckt den Stern unter der weißen Blume ihres Hochzeitskostüms.
Miriam und Béla Rosenthal, Hochzeitsfoto, 5.4.1944, Miskolc
Ihr Eheglück ist nicht von langer Dauer. Anfang Juni 1944 zwingen Gendarmen 10.000 Juden aus Miskolc ins Getto, das im jüdischen Viertel der Stadt entsteht. Für weitere 3500 Juden aus der Umgebung errichten die Behörden das Getto in einer ehemaligen Ziegelsteinfabrik. Bélas Vater, ein Mann mit guten Geschäftsbeziehungen zu Nichtjuden, bittet einen wohlhabenden Gutsbesitzer, seine große Familie zu retten. Er willigt ein und gewährt ihnen Unterschlupf. Miriam und Béla schlafen im Stall, aber das ist ihnen jetzt egal. Das Wichtigste ist, dass sie nicht ins Getto müssen. Es vergehen zwei Wochen in großer Nervosität. Dann erträgt der Gutsbesitzer die Angst nicht mehr, 30 Juden, die er versteckt hält, können jederzeit einem seiner Arbeiter auffallen. Fast täglich kommen Gendarmen und suchen nach versteckten Juden. Béla kann hier so oder so nicht länger bleiben, vor einigen Tagen schon bekam er den Einberufungsbefehl für den Zwangsarbeitsdienst in den karpatischen Bergen. Der Tag des Abschieds naht. «Ich habe ein ganz starkes Gefühl gehabt, dass ich Béla nie wiedersehen werde. Wir vereinbarten, dass jeder nach Hause geht, wenn das alles zu Ende ist. Ich wollte auf ihn nicht in
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