Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
Bauernhof ihrer Eltern, die Felder mit Sonnenblumen und Mais und an Géza. Sie stellt sich vor, wie er sie und das Kind nach dem Krieg in die Arme schließen wird. Hoffentlich hat er es warm dort, wo immer er jetzt auch ist, und muss nicht hungern. Wann wird der Krieg endlich vorbei sein? Und wie geht es Ida in Augsburg? Sie denkt bestimmt, ich sei tot. Wenn sie ihr bloß eine Nachricht zukommen lassen könnte, damit sich die Ärmste keine Sorgen machen müsste. Bis sie es nicht mehr aushält, zögert Eva den Toilettengang hinaus. Es gibt keinen Strom in der Hütte, und auch draußen brennt kein Licht, damit die amerikanischen Piloten der Kampfflugzeuge das Lager nicht sehen können. In der Nacht wirken das verschneite Lager und die schwarzen Silhouetten der Wachtürme gespenstisch. Eine richtige Toilette wie in Augsburg gibt es hier nicht. Nur eine stinkende Latrine. Eva muss zu ihr hinter die Hütte gehen. «Es war so kalt, dass ich immer Angst hatte, mir Erfrierungen zu holen.» Die Frauen waschen sich mit Schnee, das warme Wasser in der Schüssel auf dem Ofen braucht Bözsi für ihr Kind. Sie erzählen sich von ihrem früheren Leben, von der Schönheit vergangener Tage, und sie beten gemeinsam. Das gibt ihnen Kraft. Sie erinnern sich dadurch an die Menschen, die sie einmal waren. Menschen. Draußen im Lager verhungern vor ihren Augen Männer, verwandeln sich in lebende Skelette, die schwankend durch das Lager schlurfen. Man nennt diese erbarmungswürdigen Gestalten hier Muselmänner. Ihre von der Kälte geschwollenen Füße passen nicht mehr in die Holzschuhe hinein. Viele haben überhaupt keine Schuhe. Ihre Gesichter sind zerschunden und entstellt. Einige Gefangene, deren Lebenswille erloschen ist, beenden die Qual durch Selbstmord, andere werden verrückt, die meisten starren mit leeren Augen, versunken in einem Abgrund aus Hunger und Leid, vor sich hin.
Auch die Gedanken der Schwangeren kreisen unablässig ums Essen. Aber sie dürfen nicht aufgeben. Ihre Kinder brauchen sie. Glücklicherweise muss der kleine Gyuri nicht hungern, denn Bözsi hat genügend Milch zum Stillen. Gegen den Terror behaupten Häftlinge ihre Würde und Menschlichkeit, empfinden Mitleid mit den Frauen und Kindern, mehr noch, den Wunsch zu helfen. Jeden Tag bringt die ungarische Jüdin Gisela Frenkel, die in einem Arbeitskommando außerhalb des Lagers arbeitet, ein paar Kartoffeln mit, die sie geschickt vor den SS-Wachen versteckt. Auch Irenke und Gézane Parajdrol kommen jeden Tag nach dem Abendappell in die Hütte und fragen, wie sie helfen können. Jede zusätzliche Kartoffel kann in Kaufering I lebensrettend sein. Der wichtigste Helfer bleibt aber David. Immer wenn er kann, besorgt er den Frauen ein Stück Fleisch oder Milch aus der Küche, sagt ein paar tröstende Worte. Er und die anderen litauischen Juden haben den Kampf ums Überleben in den langen Jahren im Getto gelernt. Aber das bewahrt nur die wenigsten vor der Vernichtung. 1944 sind von 250.000 litauischen Juden nur noch 50.000 am Leben, davon 33.000 als Gefangene der Deutschen. Sie waren als Erste im Sommer 1944 nach Kaufering deportiert worden, und einige übernahmen wichtige Lagerfunktionen. «Sie waren gut informiert und gaben uns Hoffnung», schreibt Magda Schwartz in ihren Erinnerungen 40 Jahre später.
Die Wöchnerin Bözsi braucht jetzt jede Hilfe, aber sie hilft auch. Ihr Cousin, der Schriftsteller Oliver Lustig aus Bukarest, beschreibt in einem acht Seiten langen Bericht, den er vor Jahren der KZ-Gedenkstätte Dachau schenkte, wie er eines Morgens in eisiger Kälte im Lager I von seinem Onkel erfährt, dass seine Cousine Elisabeta (Bözsi) auch im Lager ist und gerade ein Kind entbunden hat. Aufgeregt eilt er am Abend zum Stacheldraht, der das Männer- von dem Frauenlager trennt. Die Holzhütte, in der seine Cousine sein soll, liegt nur ein paar Schritte hinter dem Zaun. Eine Frau kommt heraus und sagt ihm, dass Böszi noch nicht gehen könne, ihm aber eine Portion Essen schicke. Er solle auch morgen Abend zum Zaun kommen. «Von dieser Nacht an bis zum Tag der Befreiung ging ich Abend für Abend zum Zaun. (…) Jedes Mal bekam ich von Elisabeta eine ganze, eine halbe oder wenigstens eine Viertelportion Essen, das Essen des kleinen Gyuri, der im Lagerregister eingetragen war und wie jeder Häftling eine Portion erhielt.»
Die SS nimmt auf die Frauen keine Rücksicht. Außer Bözsi, die ein paar Tage in der Baracke bleiben darf, müssen Eva, Miriam, Dora, Sara,
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