Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
deutlich in ihrem Kopf. Wie ihre neuen Freundinnen erlebt auch sie Anfälle von Verzweiflung. Niemand sagt ihnen, warum sie hier sind und was sie erwartet. Das Verhalten der SS-Wachen ist so widersprüchlich, es ergibt keinen Sinn, egal, wie oft Miriam darüber nachdenkt. «Die SS-Leute ließen uns zwar am Leben, aber sie behandelten uns mit absoluter Gleichgültigkeit. Sie schlossen ihre Augen und machten gar nichts. Wie sollten wir dort unsere Kinder bekommen? Wir brauchten ja dringend einen Arzt.»
Es ist Anfang Dezember 1944, und die erste Geburt naht. Was für ein Glück, dass es hier doch Menschen gibt, denen ihr Schicksal nicht gleichgültig ist. Gleich am ersten Abend nach ihrem Umzug in die Holzbaracke lernen die Frauen David Witz kennen, den Küchenkapo aus dem Frauenlager. Der 30-jährige untersetzte Mann aus dem litauischen Kaunas ist als Küchenchef ein Mann mit Einfluss und Kontakten. Sogar die Lager-SS lässt ihn so weit in Ruhe, denn in Davids Küche herrscht Ordnung. «Ihr kommt aus Ungarn? Warum sprecht ihr kein Jiddisch?», fragt er die sieben Schwangeren spöttisch. Evas Augen leuchten, als sie den vertrauten Klang ihrer Muttersprache hört. Auch Miriam, Bözsi und Sara können den Mann, der mit ihnen Deutsch und Jiddisch spricht, verstehen, die drei beherrschen die deutsche Sprache gut. Noch mehr als Davids Freundlichkeit beeindruckt die jungen Frauen der Inhalt seiner Manteltaschen. Darin hat David Brot, ein Stück Fleisch und Käse versteckt, Lebensmittel, die er heimlich aus der Küche gestohlen hat. «So viele jüdische Kinder sind ermordet worden. Eure müssen leben», sagt er, als er die staunenden Gesichter der Frauen bemerkt. «David war ein Malach, ein Engel.» Miriam beobachtet den fremden Häftling, der ihr sofort Vertrauen einflößt. «Wir brauchen einen Arzt, kannst du uns helfen», flehen sie ihn an. «Pssst», zischt David und zeigt vorsichtig zur Tür. Draußen ist es ruhig, er kann weiterreden: «Ich fand für euch schon jemanden im Männerlager. Der Mann ist ein Gynäkologe aus Ungarn, so könnt ihr euch mit ihm verständigen. Aber er ist sehr schwach. Wir werden ihn füttern müssen, damit er euch helfen kann.» Während er spricht, betritt eine Frau die Baracke. Es ist Luba, eine Jüdin aus Litauen, die als Kapo eingesetzt ist. Die Schwangeren erschrecken vor der Frau mit den langen roten Haaren, Reiterhosen und Lederstiefeln. Aber bei ihren ersten Worten wird ihnen klar, dass auch sie helfen will. «Ihr braucht einen Ofen, sonst erfrieren eure Kinder», sagt Luba nur und geht wieder. Die Frauen schauen sich überrascht an. Obwohl sie erst seit ein paar Tagen im Lager sind, wissen sie schon, dass die 23-jährige Jüdin aus Schaulen von den Häftlingen gefürchtet wird. Nicht von ungefähr nennen viele sie «die rote Bestie». Es vergeht kaum eine Stunde, schon ist Luba zurück und stellt einen kleinen Holzofen an die Wand. Auch einige saubere Lappen zum Wickeln der Kinder hat sie mitgebracht.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Zählappell, bringt David den Häftlingsarzt mit. Der Mann kann sich nur mühsam aufrecht halten. Miriam schaut ihn enttäuscht an. Das soll unser Arzt sein? David hatte recht. Der etwa 50-jährige Ernö Vadász, ein Frauenarzt aus dem ungarischen Nagykálló, ist während der fünf Monate seiner Haft in Kaufering I bis auf Knochen und Haut abgemagert. Wie soll er die Geburten leiten? Aber auch der Häftlingsarzt erschrickt, als er die sieben Frauen mit ihren großen Bäuchen sieht. Seine Augen füllen sich mit Tränen. «Kinder, seht, ich bin zu schwach, wie kann ich euch helfen? Ich habe keine Instrumente, keine Seife, kein heißes Wasser, gar nichts.» Aber das lässt David nicht gelten. Seit zwei Tagen steckt er Vadász schon Essen aus der Küche zu. Auch heute bringt er Lebensmittel, dazu noch eine Schüssel Wasser, die die Frauen gleich auf den Ofen stellen. Sogar einen Tallit, einen jüdischen Gebetsmantel, hat er dabei. Niemand weiß, woher er das traditionelle Kleidungsstück aus weißem Stoff mit schwarzen Streifen hat, das von den Männern während des Gottesdienstes über der Kleidung getragen wird. Miriam sieht den festen, entschlossenen Blick des Kapos mit der weißen Armbinde und spürt erstmals, seitdem sie hier ist, Zuversicht. «David war ein Macher.»
Am Morgen des 8. Dezember setzen bei Bözsi Legmann die Wehen ein. Ernö Vadász wäscht sich die Hände und zieht den Tallit wie eine Schürze über seine Häftlingsuniform. Der
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