Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
drei hastige Schlucke, nicht mehr. Eva hat nur noch einen einzigen Gedanken: Sie will weg von hier, raus aus diesem Gebäude, egal, wohin man sie bringt. Die Eingesperrten müssen nicht nur Hunger und Enge ertragen, sondern auch täglich Demütigungen. «Immer wieder kamen Gendarmen zu uns, die nach Geld und Wertgegenständen suchten.» Viele Juden müssen sich ausziehen, denn sie könnten ja etwas am Körper versteckt haben. Auch Frauen aus der Stadt durchsuchen die Gefangenen. Die christlichen Nachbarn, denen Eva seit Herbst 1942 auf der Straße begegnet war, verwandeln sich zu raffgierigen Mittätern. «Eine Frau, die ich gut kannte, war besonders schlimm zu uns. Mit den Fingern fasste sie bei mir sogar in die Intimbereiche rein, weil sie glaubte, ich würde dort Gold verstecken.»
Géza Steckler, 1943, Dunajská Streda
Aber die 20-jährige Eva hat noch viel größere Sorgen. Sie ist schwanger. Erst kurz bevor sie ins Getto musste, hatte sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Niemand außer Géza und seiner älteren Schwester Bözsi weiß davon. Eva ist verzweifelt. «Bözsi arbeitete früher bei einem Arzt. Sie wollte uns helfen und riet mir, das Kind abzutreiben. Doch dafür war es schon zu spät, und Géza wollte es nicht zulassen.»
«Mein Bruder hat sie sehr geliebt»
«Mein Bruder hat sie sehr geliebt», sagt der großgewachsene alte Mann mit ergrautem dünnem Schnurrbart. Er seufzt. «Das hat ihn das Leben gekostet.» Seit zweieinhalb Stunden erzählt der 91-jährige Rezsö Steckler, der auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Hauses in Dunajská Streda sitzt. Auf dem Tisch liegt ein schwarzweißes Foto, das einzige, das ihm von seinem jüngeren Bruder Géza geblieben ist. Ein eleganter junger Mann im Anzug und mit einer Fliege am weißen Hemdkragen schaut nachdenklich aus dem Bild. «Géza war sehr geschickt, er konnte alles machen. Ein Mann, der mit ihm in Auschwitz war, erzählte mir nach dem Krieg, dass sich sogar SS-Männer im Lager die Uhren von ihm reparieren ließen.» Rezsö Steckler redet gern, am meisten über sich selbst, wie manche in der Stadt spotten. Aber das ist ihm egal. Schließlich kennt er viele interessante Geschichten, und vor allem ist er einer der Letzten, der noch berichten kann, wie das jüdische Leben in Dunajská Streda früher war. «Wir waren eine alteingesessene Familie, jeder kannte mich und meine Brüder», sagt er, und obwohl es nicht gerade bescheiden klingt, gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln. Auch in Israel trifft man Überlebende aus Dunajská Streda, die sich an die Brüder Steckler gut erinnern. Am bekanntesten ist wohl Jenö gewesen, der in den 1940er-Jahren als Boxer Karriere machte. Wie sein Bruder überlebte Jenö den Krieg in einem Arbeitslager. Rezsö Steckler, den inoffiziellen Chronisten der Stadt, kennt man in Dunajská Streda auch heute. Kaum ein Empfang im Rathaus findet ohne den 1,90 Meter großen selbstbewussten Mann statt. Obwohl er zum Gehen heute Krücken braucht, wirkt er sehr vital. Während er erzählt, bereitet seine Tochter Zsuzsi das Mittagessen zu. Seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren kommt sie jeden Tag, um nach ihm zu sehen. Überall im Haus hängen Familienbilder. Rezsö Steckler steht auf und bringt eine Fotografie im Holzrahmen. Auf dem Bild sind er, im Alter von etwa 50 Jahren, und seine Frau Ružena. Beide sind festlich gekleidet und lächeln. Rezsö hält in seiner linken Hand eine Zigarette, aus der Brusttasche seines Sakkos schaut ein weißes Einstecktuch hervor. Seine Frau, sagt Rezsö Steckler stolz, war die Schönste in der Stadt. Viele hätten ihn beneidet, als er sie im April 1944 heiratete. Als der Krieg vorbei war, kehrten Rezsö und Ružena Steckler aus Budapest nach Dunajská Streda zurück und fanden ihre Elternhäuser leer vor. Ihre Eltern waren in Auschwitz ermordet worden. Rezsö Steckler blieb in Dunajská Streda, das wieder zur Tschechoslowakei gehörte, und machte Karriere in der kommunistischen Stadtverwaltung. In einer Zeit, in der die Juden aus Angst vor Diskriminierung ihre Identität meistens verheimlichten, war das keine Selbstverständlichkeit. Aber er wusste sich immer zu helfen.
Wenn Rezsö Steckler über die Vergangenheit spricht, vergisst er alles, das Wasserglas auf dem Tisch, das Mittagessen, seine Zuhörer und auch den kleinen Kater, der seit einer halben Stunde miauend versucht, mit seiner Pfote das Fliegengitter am Eingangstor beiseitezuschieben und hereinzukommen. Es ist Hochsommer, aber in
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