Geboren im KZ: Sieben Mütter, sieben Kinder und das Wunder von Kaufering I (German Edition)
sich Hunderte von Menschen in eine Schlange ein. Die Gestreiften holen Koffer, Säcke und Taschen, Kinderwagen und Leichen aus den Waggons. Wie ein Haufen Müll werden sie auf die Rampe geworfen. Männer in SS-Uniform beobachten regungslos das Spektakel und übernehmen jetzt das Kommando. Es ist Sonntag, der 18. Juni 1944. Eva ist plötzlich sehr kalt. Mit klammen Fingern zieht sie den Kragen ihres Mantels hoch.
Miriam, Komárno 1944
L aura Schwarcz zündet gerade die Kerzen für den Sabbat an, als plötzlich die Tür aufgerissen wird. Ihr jüngster Sohn Jacob stürmt herein, im Gesicht ganz bleich. Etwas Furchtbares ist passiert, schreit er, die Deutschen sind hier, in der Synagoge. Schnell, wir müssen weg! So aufgebracht hat die 21-jährige Miriam ihren kleinen Bruder noch nie gesehen. Atemlos erzählt er, wie Männer in Uniform den Rabbiner an seinem Bart gepackt und aus der Synagoge herausgezogen haben. Beeilt euch, fleht er seine Mutter und Schwester an, immer noch erschüttert von dem, was er beobachtet hat. Die dampfenden Schüsseln mit Essen stehen schon auf dem Tisch, aber daran denkt jetzt niemand mehr. Laura Schwarcz bläst die Kerzen aus. Sie müssen fliehen. Es vergeht keine Viertelstunde, schon stehen Miriam und Jacob mit einigen gepackten Sachen im Flur. Ihre Mutter öffnet den Tresor, nimmt Geldscheine und Familienschmuck heraus und stopft alles in ihre Manteltaschen. Dann sperrt sie das Haus zu, blickt rasch die menschenleere Straße hinunter und rennt mit den Kindern los.
Es ist Freitagabend, der 24. März 1944. In den Fenstern der jüdischen Nachbarhäuser leuchtet das warme Licht der Sabbatkerzen. Laura, Miriam und Jacob laufen durch die fast leeren Straßen, die Furcht, aufgehalten zu werden, treibt sie an. Nach etwa fünfzehn Minuten tauchen sie in den Lärm am Bahnhof ein. Viele Menschen warten auf die Abfahrt des Zuges nach Nové Zámky, der schon auf dem Gleis bereitsteht. Plötzlich hört Miriam den Namen ihrer Familie rufen und meint, ihr Herz bleibt stehen. «Die Schwarcz sind da, schaut, Juden sind da!», schreit jemand. Zum Glück hören die Gendarmen, die am Bahnhof patrouillieren, die Rufe in dem Tumult nicht. Laura stößt ihre Kinder in den Zug und klettert hinterher. Schwer atmend fallen die drei auf eine Holzbank in einem freien Abteil. Die Minuten dehnen sich endlos. Aber dann fährt der Zug doch los. Miriam blickt noch einmal aus dem Fenster. Die Silhouette der mächtigen Festung, die der Habsburger Kaiser Ferdinand nach der verheerenden Niederlage der Ungarn gegen die Türken bei Mohács 1526 bauen ließ, kann Miriam im dunklen Abendhimmel mehr erahnen als sehen. Damals brachte das gewaltige Bauwerk den Menschen in der Stadt Sicherheit. Drei Jahrhunderte dauerte es, bis die sechs Kilometer lange Festung als Ring um die Stadt endlich fertig war. Doch inzwischen hatte Komárno seine militärische Bedeutung verloren, und die Anlage diente der österreichisch-ungarischen Armee nur noch als Kaserne. Die Stadt geriet in eine Wirtschaftskrise, von der sie sich erst nach dem Bau der Eisenbahn erholte. Der Anblick des nunmehr leeren Bahnhofs prägt sich tief in Miriams Gedächtnis ein. Der Zug fährt ratternd aus der Stadt hinaus, Häuser und Straßen verschwinden in der Dunkelheit.
Am 2. November 1938 besetzten ungarische Truppen den bis dahin tschechoslowakischen Teil Komárnos am Nordufer der Donau, in dem Miriam mit ihren Eltern lebte. Wie schon bis 1918 gehörte jetzt die ganze Stadt zu Ungarn. So hatten es der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop und sein italienischer Kollege Galeazzo Ciano in den Nachverhandlungen zum Münchner Abkommen vom September 1938 im Wiener Schloss Belvedere entschieden. Als Verbündeter des Deutschen Reichs erhielt Ungarn 1938 große Gebiete der Süd- und Ostslowakei und der Karpatho-Ukraine, 1940 das rumänische Nordtranssylvanien und im April 1941 die jugoslawischen Gebiete Bacska und Südbaranya. 40.000 Juden aus den annektierten Gebieten, darunter auch Miriams Familie, wurden damit zu ungarischen Staatsbürgern. Für Miriams Vater Jenö, einen überzeugten Anhänger des tschechoslowakischen Präsidenten Masaryk, bedeutete die Annexion einen herben Schlag. Bis zu seinem Tod im Herbst 1943 konnte er sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass die neuen Gesetzgeber nicht mehr in Prag, sondern in Budapest saßen, das er für rückständig hielt. Christliche Bewohner fühlten sich gleich in der ersten Nacht, als die ungarischen
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