Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Grund zur »Umerziehung durch Arbeit« in ein Pekinger Lager gesteckt, und andere bekommen den unbedingten Willen zur Harmonie noch härter zu spüren: Der chinesische Juraprofessor Liu Renwen schätzte zuletzt die Zahl der in China pro Jahr hingerichteten Menschen auf 8000. Achttausend. So viel exekutiert der Rest der Welt zusammen in fünf Jahren nicht. Vgl. auch Schneller, höher, weiter → Olympischer Geist .
Muße. Oder:
Entspannen beim Rückwärtsgehen
Da läuft ein Mann rückwärts. Warum macht er das? Folgt seinen Fersen durch den Park, mitten durch all die Bäume und ihre harten Stämme. Dreht nicht einmal den Kopf. Steuert durch das Tor, tritt auf den Gehsteig. Radler umkurven ihn. Noch immer läuft er rückwärts. Warum? Jetzt bleibt er stehen. Mit dem Finger malt er ein Schriftzeichen in die Luft: Xian , Muße. »Ich entspanne mich«, sagt er.
Am Anfang aller Muße stand in China der Mond im Türstock. Und gleich daneben stand wahrscheinlich ein Becher Hirsewein. Den haben die Chinesen allerdings unterschlagen, als sie das Bild im Zeichen xian festhielten. Der Dichter wusste von dem Zusammenhang, er nährte sich von ihm.
»Genießen soll der Mensch sein Leben, bald schmeckt es schal.
Nie lasst uns leer dem Mond entgegenheben den goldenen Pokal.«
Mehr als 1200 Jahre alt sind diese Zeilen von Li Taibo, dem exzentrischen Genie. Saufen und den Mond besingen – dafand der Dichter zu sich selbst, abseits des Schuftens und Kriechens am Hofe der Tang. Der Legende nach nahm Li ein Ende, zu dem ihm sicherlich selbst die besten Verse eingefallen wären: Berauscht soll er versucht haben, bei einer Bootsfahrt den Mond in den Wellen zu erhaschen. Die Wellen erhaschten dann ihn.
Zwischen zwei Türflügeln der Mond: Xian ist noch heute in China das Wort für Muße und Freizeit. Ein Schriftzeichen für das Gegenteil gibt es auch. »Viel zu tun haben« heißt mang . Das Zeichen besteht aus zwei Teilen: neben einem Herzen – der Tod.
Wer am Hof keine Eingaben mehr zu schreiben und keine Edikte zu kopieren hatte, der konnte wohl kalligrafieren und dichten. Die Bauern schufteten derweil, bis sie todmüde und oft hungrig auf ihre Strohlager fielen. Aber zwei Dinge gönnte das Leben auch ihnen: den Mond und den Schnaps. Und wenn die Felder brachlagen, durften die Menschen Trost suchen bei ihnen. Im Herbst sangen auch die Bauern den Mond an. Feierten und betranken sich. Lange Tage lagen nun vor ihnen, in denen kein Acker zu bestellen war. Noch heute findet man in China Dörfer ohne einen Brocken Fleisch auf den Tischen. Ein Dorf ohne Schnaps wird man nicht finden.
Der ehemalige KP-Generalsekretär Zhao Ziyang, erzählt ein Freund, habe in den Achtzigern einmal ein Bauerndorf im chinesischen Herzland besucht, in der armen Provinz Shaanxi. Was sie denn so in ihrer Freizeit trieben, habe der Premier von den Bauern wissen wollen. Freizeit?, fragten die verständnislos zurück. Na abends, nach der Arbeit, hakte Zhao nach: Was macht ihr denn da? In der Anekdote kratzt sich der Bauer am Schädel und antwortet schließlich ungeniert: Wir vögeln. Und dann? Dann ruhen wir uns aus, sagte der Bauer. Zupfte sich den Bart und sagte: Und dann machen wir’s noch einmal. Siehst du, sagt der Freund, deshalb gibt es 1,3 Milliarden Chinesen.
Die Chinesen haben uns nicht wenige Dinge voraus, zumBeispiel Mondraketen oder die Fähigkeit, jederzeit wie auf Kommando in Tiefschlaf zu verfallen (einmal sah ich auf einem Foto, wie ein Schlafakrobat in Peking sich eine der dicken Absperrungsketten im Park zur Hängematte machte). Besondere Fertigkeit haben sie entwickelt in der Kunst des Hockens ( dun ). Das kontemplative Sitzen nimmt generell einen großen Raum im chinesischen Leben ein, und Hocken ist das, was Chinesen machen, wenn ihnen die dazu notwendige Sitzgelegenheit fehlt. Wie?, sagen Sie jetzt vielleicht: Hocken kann ich auch. Und verhielten sich damit nicht anders als der krächzende Rabe, der sich vor der Nachtigall aufplustert: »Singen kann ich auch.«
Chinesen haben es schlechthin zur Meisterschaft darin gebracht, ihren Hintern auf den eigenen Unterschenkeln Platz nehmen zu lassen. Das ermöglicht ihnen, sich an allen möglichen und unmöglichen Orten niederzulassen und dem versonnenen Hocken nachzugehen: So sieht man sie auf Gehsteigen, an Bushaltestellen und in Warteräumen in der Hocke gemütlich Melonen schlürfen, einander fotografieren und Zeitung lesen. Wie sie es dabei schaffen, die Fußsohlen bis zur Ferse
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