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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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Treppenstufen zurechtschnitten (denn auf alle heiligen Berge in China führen Treppen vom Fuß bis zum 3000-Meter-Gipfel)? Oder aber der Jahrmarkt auf dem Gipfel, wo insgesamt drei Seilbahnen Heerscharen von Touristen in die Tentakel der keifend um Kunden ringenden Souvenirverkäufer und Restaurantschlepper spuckten? Aber Sie müssen keinen Berg besteigen – wer immer eine Nacht mit einer chinesischen Reisegruppe auf dem gleichen Hotelstockwerk verbracht hat, der weiß: Die Mehrzahl der Chinesen findet Vergnügen und Erfüllung in re nao , »Hitze und Lärm«. Es zieht sie dorthin, wo schon viele andere sich aneinanderreiben, wo die Hölle los ist. Deshalb verhaken sich die Paddelboote auf dem kleinen Teich im Pekinger Solidaritätspark im Frühling regelmäßig zu prächtigen Knäueln, die sich vor den Verkehrsstaus am Dritten Ring nebenan nicht zu verstecken brauchen. Deshalb reihen sich Hongkonger in jede Schlange ein, an der sie vorbeilaufen, auch ohne zu wissen, wofür sie da eigentlich anstehen. Deshalb gilt in China nicht die stilvolle Einrichtung eines Restaurants als Gradmesser für seine Qualität, sondern der aus ihm dringende Lärmpegel.
    Re nao ist ein zur Erlangung von Spaß und Freude angestrebter Daseinszustand: Man taucht ein in eine möglichst große Anzahl von Menschen, um einander dann durch die Absonderung von möglichst viel Dezibel zu versichern, dass man nicht allein ist auf der Welt. Es ist der Verdacht noch nicht ausgeräumt, dass dort, wo sich bei anderen Menschen Genstränge befinden, Chinesen Konstruktionspläne für Feuerwerk haben. Letzteres haben sie folgerichtig auch erfunden und zelebrieren es mit weltweit unerreichter Meisterschaftund Furore. Re nao breitet sich heute in China stetig aus, was mit der Zunahme an freudigen Anlässen korrespondiert, die diesem leidgeprüften Volk in seiner Geschichte allzu selten in den Schoß fielen: Unter den Kaisern boten sich den allweil ums Überleben ringenden Bauern zur Entspannung nur privater Sex und öffentliche Exekutionen, und die ersten drei Jahrzehnte unter der KP brachten vor allem Furcht, Denunziation und Tod. Die Allgegenwart von »Hitze und Lärm« im heutigen China ist darum ein schönes Zeichen. Einerseits. Andererseits scheint der gemeine Mitteleuropäer mit einem ungleich zarteren Nervenkostüm ausgestattet als der durchschnittliche Einheimische.
    Chinesen saugen aus re nao Lebenskräfte. Xing Weizhou zum Beispiel, ein 77-Jähriger mit Baseballkappe. Jeden Morgen hüpft er im Park des Sonnenaltars zwei Stunden umher wie ein Frosch und kickt mit der Innenseite seines Fußes seinen Freunden, vor allem aber Freundinnen ein kleines, mit Federn bestücktes Stoffsäckchen zu. Jianzi heißt das Spiel. Spielt er mit Damen, dann legt Xing zwischen zwei Pässen eine drahtige Pirouette ein. Xing stellt Büstenhalter her (»für die kleinen chinesischen Busen«). Er hat Fabriken in ganz China und ein Haus in New York. Eine Villa so groß, sagt er, wie der halbe Sonnenaltarpark. Trotzdem hält er’s nicht aus in Amerika, wo seine Kinder vor lauter Arbeit keine Zeit mehr haben und die Nachbarn sich in ihren Häusern verstecken. Den größten Teil des Jahres verbringt er in China, in den Parks, in denen es wuselt, brummt und quietscht, dass es eine Pracht ist. Guck dich um, sagt er strahlend: »Re nao.«
    Amerika und Europa sind ohnehin merkwürdige Orte. Dort ist Angeln ein Sport, der Geduld und Konzentration verlangt, Morgendämmerung und Einsamkeit. In Peking geht Angeln so: Die Freunde vom Golfclub fahren sonntags in die Berge, stellen sich – alle auf einmal – um einen kleinen Beton-Swimmingpool herum und halten ihre Angeln rein. In jedem Becken tummeln sich doppelt so viele Forellen, wieAngler drum herumstehen, also ungefähr eine halbe Million. Wer nach fünf Minuten noch keinen Fisch gefangen hat, der hat aus Versehen seinen Golfschläger in das Becken gehalten. Die gefangenen Fische kann man sich vom Betreiber des Beckens an Ort und Stelle grillen lassen, was vor allem deshalb eine Freude ist, weil das Grillen als Zubereitungstechnik merkwürdigerweise in der sonst so erfinderischen chinesischen Küche eindeutig zu kurz kommt. (Liegt es daran, dass es zu sehr an die Lagerfeuer der stets so gefürchteten wie verachteten Nomaden erinnert, an die gegrillten Hammel der Mongolen, die gegrillten Bärentatzen der Mandschuren? Grillen nur Barbaren?) Die Fischbecken zieren ein in seiner Friedlichkeit spektakuläres Bergtal. Ein Bächlein

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