Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
treten sie allmorgendlich an zu Tango und Walzer rund um den Altar, in bester Laune und bei Regen in Gummistiefeln. Da sitzen die ihren stickigen Miniwohnungen entflohenen Nachbarn zum Majiang unter schattigen Ulmen. Und da steht im Sommer jeden Morgen mit nacktem Oberkörper der 78-jährige frühere Masseur Meng und pumpt seine vierzig Liegestützen. »Sich satt essen und warm anziehen können –dann ist die Welt doch in Ordnung«, findet Meng. Damit ist die Basis gelegt für den Rest seiner Tage, für wan : Vergnügen. Meng grinst. Wan heißt eigentlich »spielen«, lässt sich aber auf alles verwenden, was Spaß macht. Die Aufforderung »Lass uns am Wochenende gemeinsam spielen« kann die harmlose Besichtigung von zu Brontosauriern geschnittenen Hecken im Stadtpark ebenso bedeuten wie die folgenschwere romantische Deutung derselben. Männer bzw. Frauen kann man genauso »spielen« wie Drogen, Aktien oder Tennis. (Dass Chinesen an anderen Dingen Vergnügen finden als wir, musste ein Freund erfahren, der fern vom heimischen Rosenheim mit einer kleinen Firma in Taipei versucht, die Taiwaner zu deutschen Brettspielen zu bekehren. »Ein schwieriges Unterfangen«, seufzte er in einer E-Mail. »Viele Chinesen denken beim Stichwort ›Spielen‹ erst mal ans Essen und Trinken. Ans Essen denken sie ebenso beim Stichwort Vergnügen. Wie auch beim Stichwort Freizeit. Oder oder oder...«)
In einem Neubaugebiet jenseits des Vierten Ringes haben die Bagger ein paar Felder übersehen. Freies Feld, Drachen, eine alte Hütte, ein Baumstumpf, eine Achtzigjährige, die sich ächzend setzt: »Wir lernen gerade erst«, schnauft sie und zeigt auf die anderen, die einen Kreis gebildet haben, den Fächer in der rechten Hand, ein buntes Tuch in der linken. Sie tanzen den yangge , einen alten Bauerntanz, den die Kommunisten auf ihrem langen Marsch zur Revolution in den Dörfern des Lösslandes aufgelesen, dann ideologisch aufgeladen und schließlich in die Städte getragen haben. Der Tanz hat die Ideologie überlebt, jeden Morgen und Abend sieht man sie heute tanzen, die Alten: unter Brücken, an Kreuzungen, auf Parkplätzen. Meist sind es Frauen, manchmal stehen ein paar alte Männer daneben, tröten und trommeln den Takt.
Hier, auf diesem vernarbten Feld jedoch wirbelt ein Siebzigjähriger in schlotternd die Knochen umwehenden Shorts, er bricht aus aus dem Ringelreihen, umtanzt den Besucher.Der Hahn im Korb. Er kräht: »Die Kommunistische Partei hat uns Glück gebracht.« Er spricht das nicht, und er ruft das nicht – er singt es, improvisierte Verse im theatralischen Singsang der Peking-Oper. »China geht es von Tag zu Tag besser.« Schelmenschritte. »Weltraumschiffe fliegen durchs All.« Zack, der Fächer schneidet durch die Luft wie ein Schwert auf dem Weg zum Hinrichtungsblock. »Aus den Gewehrläufen kommt die Macht.« Jetzt kichert er.
Der greise Harlekin springt heran. »Wichtig für die Gesundheit«, quäkt er, die Vokale auf und ab durch die Oktaven ziehend: »Wi-hi-chtig, dass unser gro-ho-ho-hoßes Vaterland gesuuund ist.« Die Damen sind ganz mit sich selbst beschäftigt, wiegende Hüften, Grazien des Alters.
China ist ein Land, in dem selbst der Volkssport Essen einem höheren Zweck dient, nämlich der medizinisch korrekten Versorgung des Körpers mit der jeweils benötigten Dosis Yin oder Yang, Kalt oder Heiß, Süß oder Bitter. Auch Spiel bleibt hier kein hedonistischer Selbstzweck. Hobby, was heißt hier Hobby, mault der Drachensteiger am Stadtrand, ein sehniges Kerlchen Mitte sechzig. »Ich mach das, um Augen und Nackenmuskeln zu trainieren. Was meinen Sie, wie viel Kraft das kostet, ständig in die Höhe zu blicken?«
Deshalb sieht man all die Männer und Frauen seltsam entrückt durch Peking gehen, durch Schanghai, durch Kanton. Gegen die Masse, gegen den Verkehr. Sie bewegen vergessene Muskeln. Sie glauben, es sei gesund, rückwärts durch die Städte zu laufen. Abenteurer allesamt.
Rückwärts laufen auch die Männer mit den langen Pinseln. Kalligrafen sind es, die auf den Wegplatten des Erdtempelparkes Gedichten der Tang- und der Song-Dynastie flüchtige Gestalt schenken. Wasser ist ihre Tinte, das Pflaster ihr Papier. »Wenn du immer nur nach vorne läufst«, erklärt der pensionierte Lehrer Wang Jiuxiang, »trainierst du nur einen Teil deines Gehirns.« Wang hat vor fast einem Jahrzehnt die Riesenpinsel erfunden, als er eine zurechtgeschnittene Schaumgummispitzein einen Plastikrohrschaft klemmte. Die
Weitere Kostenlose Bücher