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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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plätschert. Baumkronen rauschen. Oben auf dem Kamm windet sich die zerbröckelnde Große Mauer. Dem Pekinger Wochenendausflügler fehlt jetzt nur noch eines: ein Feuerwerk. Und so hallen bald die Böller durch das Tal, stundenlang. Wenn die Forellen bauchoben im Becken treiben, ist die Idylle perfekt.
    Re nao -Entzug ist im Übrigen nicht ungefährlich und kann bei Chinesen von zarter Konstitution gesundheitliche Folgen zeitigen. Als meine ehemalige Assistentin, eine Germanistin aus Sichuan, nach Berlin zog, um dort ihre Doktorarbeit zu schreiben, erhielt ich bald einen langen Brief von ihr. Berlin sei sehr aufregend, schrieb Frau Yang, das Kulturangebot der Stadt überwältigend, und ob es ein schlechtes Omen sei, dass sie sich am Tag ihrer Ankunft ausgerechnet unter dem Brandenburger Tor übergeben musste, das lasse sich jetzt noch nicht sagen. Eines allerdings mache ihr doch zu schaffen: die Stille. Wochenlang sei sie jeweils mitten in der Nacht aufgewacht, zunächst ohne zu wissen, warum – bis es ihr eines Tages aufging: »Es war zu still. Der Lärm, der einen in China stets umgibt – er war einfach weg. Das hat mich beunruhigt.« Frau Yang wohnte übrigens direkt an der Karl-Marx-Allee, einer Schneise, deren Beschaulichkeit zu preisen noch keinem Berliner eingefallen wäre.
    Das Praktische an re nao ist, dass man nicht unbedingt Teil des Spektakels sein muss, sondern einfach nur zugucken kann ( kan re nao ). Seit jeher ist es das billigste Volksvergnügen zu beobachten, wie es irgendwo kracht. Chinesen lieben es noch heute, sich in Scharen dazuzugesellen, wenn zwei Nachbarinnen keifen oder Passanten sich prügeln. Die Grundregel dabei: nie eingreifen, sondern still genießen, dass man nicht selbst der Doofe ist. Verkehrsunfälle gelten als besonders aufregend und sind noch besser als ein Ausländer, der sich auf dem Gehsteig die Schuhe bindet.
    Zur Mutter allen re naos wurde der Tag, an dem Peking die Olympischen Spiele zugesprochen wurden: Die ganze Nacht hindurch war von den Reportern am TV-Schirm kein einziges Wort zu verstehen. Re nao passt zum olympischen Geist: Das Zeichen re stellte einmal einen Fackelträger dar. Gegenteil von re nao ist tai ping , der »höchste Frieden«. Ein Tipp: Tai ping ist in Peking nur auf eine Art zu erlangen – allein im Schwimmbad, mit beiden Ohren unter Wasser.

 

1. Sport 2. Kampagne
     
     
    Wie Schießpulver, → Essen nach Zahlen und überhaupt so ziemlich alles unter der Sonne außer der lila Kuh (Schweiz) hat die chinesische Zivilisation angeblich auch Fechten, Polo und Fußball hervorgebracht. Die »frühesten Belege für chinesischen Sport« datiert der Sporthistoriker Gu Shiquan 500000 Jahre zurück, was schon deshalb eine Leistung ist, weil der Homo sapiens erst 400000 Jahre auf dem Buckel hat. Zwei Jahrtausende konfuzianischer Indoktrination haben jedoch ihre Spuren hinterlassen: Kultiviert wurden stets Seele und Geist und nur selten der Körper, und so machen Chinas Städter außerhalb staatlich organisierten Medaillendrills noch immer den Eindruck eines eher schmalbrüstigen und kurzatmigen Volkes. Die Älteren frönen dem Sport gerne in Zeitlupe (→ tai ji quan , Schattenboxen), viele Jüngere diskutieren ihn vornehmlich als Risikoaktivität. Kurz nach der Jahrtausendwende versuchte die Regierung ihr Volk zu einem Sinneswandel zu ermuntern, in Peking tauchten über Nacht Freiluft-Fitnessparks auf: mit grellbunt lackiertem Marterwerkzeug bestückte Spielplätze, die bei Senioren ein großer Erfolg sind. Unter den Jüngeren ist die Mitgliedschaft im Fitnessstudioder letzte Schrei. Die meisten Chinesen jedoch denken beim Wort yun dong noch immer zuerst an seine zweite Bedeutung: »politische Kampagne, Massenbewegung«. Erster Turnvater der Nation in diesem Sinne war Mao Zedong. Seinen Kampagnen fielen Spatzen und Ratten ebenso zum Opfer wie »Rechtsabweichler« und »stinkende Intellektuelle«. Politisch motivierte yun dong sind noch heute populär bei der KP-Führung. Zum Beispiel die Law-and-Order-Kampagne yan da , »hart zuschlagen«. Diese Kampagne geht nun schon in ihr drittes Jahrzehnt und zielt auf »feindliche Elemente zu Hause und im Ausland«. Die chinesische Polizei sagte, sie wolle so für eine → harmonische Gesellschaft und ein »gutes gesellschaftliches Klima« sorgen. Und so wurde der Pekinger Ye Guozhou im Gefängnis misshandelt, weil er gegen den Abriss seines Hauses für Olympia protestiert hatte, Frau Wang Lin wurde aus dem gleichen

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