Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
flach auf den Boden aufzulegen und in dieser Haltung zu verharren, ist mir ein Rätsel; es ist eine gymnastische Meisterleistung, bei deren versuchter Nachahmung der untrainierte Ausländer nach nur Sekunden einfach umfällt und die Straße hinabrollt. Chinesen hingegen ist die Hocke schon als Kind so in Fleisch und Blut übergegangen, dass nicht wenige sie dem einfachen Sitzen vorziehen und auch bei Vorhandensein einer Bank lediglich deshalb auf selbige klettern, um, oben angelangt, erneut in die Hocke zu gehen und sodann eine zu rauchen: Die Sicht ist von dort oben natürlich besser.
Mir kam es stets so vor wie die charakteristische Haltung eines Volkes, das immer viel warten musste und dazu nur wenig Platz hatte. Aber es steckt mehr dahinter. Nicht immer ist das Hocken freiwillig: Autoritätspersonen befehlen inChina ihre Gegenüber gern kollektiv in die Hocke, um Kontrolle und Überblick zu erhalten – und sich selbst dadurch zu erheben. Direktoren machen das mit ihren Schülern, Offiziere mit ihren Soldaten, und einmal, auf dem Kantoner Bahnhof, da machte es das Sicherheitspersonal mit uns allen, die wir auf den Zug warteten: Nach Zugnummern getrennt, mussten wir auf dem Bahnhofsvorplatz in die Hocke gehen (gegenüber dem einfachen Auf-dem-Boden-Fläzen spart die Hocke nicht nur Platz, sie lässt dem Hockenden auch weniger Energie für Dummheiten). Wie gesagt, ich fiel sofort um. Den Ursprung ihrer Prägung aufs Hocken führen chinesische Freunde zurück auf einen recht banalen Umstand: das allgegenwärtige Plumpsklo. Tatsächlich ist die Assoziation Klo/Hocke vielen Chinesen so natürlich, dass man in Flugzeugen, die nur mit Sitzklos ausgestattet sind, auf der Klobrille manchmal Schuhabdrücke finden wird.
1994 schenkte die Regierung den Arbeitern einen zweiten freien Tag pro Woche, seither haben auch Chinesen Samstag und Sonntag frei, zumindest die, die beim Staat oder bei einer ausländischen Firma angestellt sind. Noch nie hatten Chinas Städter so viel Freizeit wie heute.
Geld hatten sie auch noch nie so viel. Die Leute fahren mit dem Auto. Sie reisen. Manche bezahlen Tausende von Yuan, um am Wochenende mit einer Flak der Volksbefreiungsarmee einem unschuldigen Erdhügel die Flanke aufreißen zu dürfen. Angehende Privatunternehmer betrinken sich in Bars, wo Livebands John Denver nachspielen und Kurt Cobain; die Neureichen leisten sich die Gesellschaft von Filmsternchen; Kader lassen sich in dunkle Clubs einladen, wo die Flasche Henessy X. O. schon mal 200 Euro kostet.
»In den USA gehen die Leute in ihrer Freizeit in den Supermarkt und in die Kirche«, sagt Victor Yuan vom Meinungsforschungsinstitut Horizon. »In China gehen die Leute lieber zum Karaoke als in den Supermarkt.« Karaoke ist eigentlich eine japanische Erfindung, hat in China aber längstden flüchtigen Charakter einer Modeerscheinung abgelegt und ist zum festen Bestandteil der Kultur geworden. Massage und mehr kosten extra – ins Karaoke geht man nicht nur, um neue Wang-Fei-Songs und alte Mao-Hymnen zu schmettern. Männer gehen hin, weil sie dort xiao jie finden, Fräulein. Und die Fräulein gehen hin, weil man als einfaches Mädchen kaum schneller reich werden kann in diesem Land. »Es gibt in China drei neue Sippen von Aristokraten«, sagte mir ein einst berühmter Propagandasänger: »Neureiche, Kader und Huren.« Da saßen wir gerade in einem als Teehaus getarnten Bordell in der alten Kaiserstadt Xi’an; Leiter des Bordells »Blauer Jasmin« war der Bruder des Chefs der lokalen Polizeiwache. Woher denn die Mädchen seien, fragte ich ihn und deutete auf die grell geschminkten Fräulein, die auf einer Bank in der Ecke saßen wie die Hühner auf der Stange. Der Wirt starrte mich an. »Welche Mädchen?«, fragte er. Nun war es an mir, ihn anzustarren. Einige dieser Leute haben nicht wirklich Spaß. Ihnen geht es darum, erstens anders und zweitens besser zu sein – und das drittens vorzeigen zu können. Das sind die Leute, die das teure Anne-Sophie-Mutter-Gastspiel in Peking nur durchstehen, wenn sie nebenher über ihr Mobiltelefon mindestens drei Freunde wissen lassen, welchen Luxus sie sich gerade gönnen. Freizeitforscher Yuan glaubt gar, dass im nervös aufbrechenden China zwar viele den Anschein erwecken – aber nur eine Gruppe von Erwachsenen das Leben wirklich genießt: die Alten. Sie haben kaum Geld, für die Monatskarte im Erdaltarpark jedoch reicht es allemal. Die kostet seit Jahr und Tag drei Yuan, knapp 30 Cent.
Da
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