Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
größerer Obsession zelebriert und ausgelebt: Während aus Europa bisher kein Gruß bekannt wäre der Sorte »Heute schon gevögelt?«, ist es in China gang und gäbe, sich mit »Heute schon gegessen?« zu begegnen. Chinesen konfrontieren die Welt mit dem Mund. Bei uns zählt man »pro Kopf«, in China nach Mündern ( kou ); der chinesische Begriff für »Bevölkerung«, ren kou , heißt wörtlich: Menschenmünder. Beim Europäer signalisiert der offene Mund nicht selten Schrecken, für den Chinesen war er meist der einzige Teil des Körpers, durch den einer Gutes von der Welt zu erwarten hatte. Zugegeben, nicht immer: Wenn einer Leid erfährt, dann »isst er Bitternis« ( chi ku ); wenn er eifersüchtig ist, dann hat er »Essig gegessen« ( chi cu ). Trost aber und Seligkeit fand China immer in seiner Küche, und so wurde das Essen »des Volkes Himmelreich«, wie es im alten Spruch heißt, die Achse seiner Tage, der Grund seines Daseins. Für die Amerikaner sei Essen schlicht der Treibstoff, der sie durch die Woche bringt, sie äßen, um zu leben, hat der in den USA lebende chinesische Historiker Sun Longji beobachtet:»Bei Chinesen hingegen hat man den Eindruck, dass sie leben, um zu essen.«
Gott sei Dank, möchte man als neutraler Europäer einwerfen. So nämlich wurde Peking zum Schlaraffenland für mich und für all die anderen Ausländer, die hier leben. Das »Feiteng Yuxiang« zum Beispiel: Dort servieren sie den besten shui zhu yu der Hauptstadt, den »in Wasser gekochten Fisch«, eine grob irreführende Bezeichnung für ein Gericht, das zarten filetierten Fisch in Sprengstoff verwandelt. Serviert wird der Fisch in einer gewaltigen Metallschüssel, welche die stärksten Kellnerinnen unter Brodeln und Zischen an den Tisch balancieren. Allein der Anblick – ein Schock für Uneingeweihte – lockt das Adrenalin aus den Drüsen. Es kitzelt das Auge zunächst nichts als knisternde, blubbernde Lava: ein Berg glänzender, getrockneter Chilischoten, die die Kellnerin sodann in minutenlanger Arbeit aufreizend behutsam vom Fischtopf abschöpft, was Vorfreude und Erregung in immer neue Höhen treibt. Dann, endlich: der erste Schuss beziehungsweise der erste Bissen.
Die Tür zur »Heimat des brodelnden Fischs« (so heißt das Restaurant auf Deutsch) ist kaum aufgestoßen, schon vermögen uns der Schmutz, der Lärm und der Dauerstau, all das Unwirtliche dieser einst großartigen und ihre Seele nun an drittklassige Moderne verkaufende Stadt nichts mehr anzuhaben. Stattdessen reiben wir uns vor Staunen und Freude die Augen und die Bäuche, Tag für Tag, solange es noch geht, denn nicht mehr lange, und wir können nur mehr aus schmalen Schlitzen blinzeln vor lauter Speckwängelein, und unseren Bauchnabel haben wir auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, so kugelrund sind wir geworden. Und wenn wir bunt durcheinander sentimental werden, Chinesen und Ausländer, dann schieben wir einander ein Stückchen Frühlingsbambus in den Mund und stoßen hernach unter rüden Flüchen und zarten Versen an auf alte Herrlichkeit und neues Abenteuer, und am Schluss liegen wir einander in denArmen, und die Welt vor der Tür, die hat sich auf wundersame Weise davongemacht.
Dass Leute für so ein Essen eine Stunde anstehen, mitten unter der Woche, ist normal. Im »Brodelnden Fisch« haben sie Kellnerinnen, die mit Megafon und elektronischer Anzeigentafel den Ansturm dirigieren. Vorbestellen kann man nicht. Auf Taiwan, wo sich mancher chinesische Charakterzug in geradezu vorbildlich konzentrierter Form findet, hat bei Hochzeitsbanketten das Essen mittlerweile sogar die Brautleute als Attraktion des Abends verdrängt. Als ich das letzte Mal in Taipeh war, war ich zu Gast bei der Hochzeit eines Musikerpärchens: Er war Sänger, sie Bassistin bei einer Death-Metal-Band. Auf der Bühne treten sie für gewöhnlich auf mit schwarz-weiß geschminkten Gesichtern, hier nun liefen sie ein in den abgedunkelten Ballsaal eines Luxushotels zu den Klängen klassischer Musik, er im Anzug, sie im weißen Brautkleid, beide eine Kerze in der Hand. Sehr romantisch – aber nichts gegen die shang cai xiu , die »Essen-Servier-Show«, die der Conferencier ankündigte, kaum hatte er das Brautpaar von der Bühne geschubst. »Kinder, bitte nicht erschrecken«, hörte man ihn noch sagen, dann gingen die Lichter aus, und es lupften die Gäste ein Trommelwirbel und bombastische Musik so von den Sitzen, dass man den Einlauf von Mike Tyson, mindestens jedoch des
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