Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
traditionelle Gewohnheiten wie das gemeinsame Essen von Tellern in der Mitte des Tisches ändern« – das allerdings rührt ans Herz einer Kultur. Manche Restaurants hatten tatsächlich damit begonnen, servierten nach dem Ausbruch der Lungenseuche jedem Gast sein Essen einzeln. Die Vorstellung des Essens von getrennten Tellern ist den meisten Chinesen jedoch so fremd, das Konzept so revolutionär, dass die »Pekinger Jugendzeitung« ihre Leser behutsam anleitete: »Der Gast nimmt zuerst den gemeinsam genutzten Löffel,holt sich damit etwas von dem Essen auf den Teller vor ihm und benutzt im nächsten Schritt sein eigenes Besteck.« Wie? Nicht mehr selbst mit den Stäbchen zulangen dürfen und sich im scherzhaften Duell mit dem Nachbarn das schönste Stück Hühnchen schnappen? Um es sodann als Zeichen der Wertschätzung ebenjenem Nachbarn auf dessen Reisschale oder direkt zwischen seine Lippen zu nötigen?
Man kann in diesem Land erleben, wie in der schäbigsten Nudelbude zwei Wildfremde einander in eine hitzige zwanzigminütige Debatte verwickeln über die korrekte Art, wieder Nudelteig zu kneten, zu schlagen, zu ziehen und zu kochen sei. Später ist man sich einig: Genüsslich schlürfend, wird die Nudel der Suppe entzogen. Die geräuschvolle Begleitung verlange »der Respekt vor der Nudel«, urteilt Liu Qi. Liu ist Kolumnist mehrerer Zeitungen und hat einmal in Amerika als Kellner gearbeitet. Dort ging ihm alles eine Spur zu elegant und leise zu. »Kein Ton kommt den Amerikanern beim Essen raus«, weiß er zu berichten. »Wo bleibt da die Romantik?« In China nämlich ist es um die Intimität so bestellt, dass sie in Krach und Spektakel bestens gedeiht. Liu war einen Monat nicht mehr auswärts essen gegangen, für uns machte er eine Ausnahme. »SARS hat jetzt schon unsere Esskultur verändert«, sagte er über Kohl mit viererlei Waldpilzen und gekochtem Rindfleisch mit Pfefferdip. »Viele danken SARS dafür.« Plötzlich verbrachten die Leute wieder Zeit mit ihrer Familie, aßen abends gemeinsam zu Hause. Früher hatten Liu und seine Frau jeden Tag mit Kollegen oder Geschäftspartnern im Restaurant gegessen – in China nichts Ungewöhnliches. An der frischen Luft soll sich das Virus schnell verteilen, so entdeckten die Pekinger das Picknick. Das Ehepaar Liu war mit Freunden in den Duftbergen: »Am Schluss haben wir mit einem Becher chinesischer Medizin angestoßen.« Knoblauch gewann neue Popularität als angeblicher Virentöter, am besten roh knabbern: »Aber nicht mehr als eine Knolle pro Tag«, rät Liu.
Kein Mitleid hatte Liu Qi mit seinen Landsleuten imSüden, denen die Regierung im Gefolge von SARS den Genuss exotischen Wildbrets verbot. Kantonesen sind im Rest des Landes bekannt dafür, dass sie alles essen, »was vier Beine hat und kein Stuhl ist, was fliegt und kein Flugzeug ist, was schwimmt und kein U-Boot ist«. Bald nach dem ersten Schock jedoch wurden aus Kanton Restaurants gemeldet, die schon wieder Werbung machten mit dem Fleisch von seltenen schwarzen Riesensalamandern – welches das Immunsystem stärken und so gegen SARS helfen soll. Serviert wird der Salamander roh, als Sushi. Meisterkoch Zhou Jin zeigte sich einsichtig. Bärentatzen zum Beispiel kocht er nicht mehr. Zhou ist erfinderisch: »Ich nehme Kamelfuß oder Eselfleisch und lasse es schmoren in Apfel- und Zypressensud. Das schmeckt genauso.« Auch bei den getrennten Tellern war Zhou Vorreiter: »Unsere Gäste sind Staatsführer und andere hohe Leute. Die nehmen es genau mit der Hygiene.« Ein wenig schmerzt das schon: Zhous Kreationen sind kleine Kunstwerke: »Zerteilt man sie, ruiniert man sie.« Nun wird jedes Gericht einmal den Gästen zur Bewunderung vorgeführt, bevor die Kellner an ihr Werk der Zerstörung gehen. »Das einfache Volk so weit zu bringen«, glaubte Zhou Jin, »wird jedoch noch viele Jahre brauchen.«
Am Hinteren See, im idyllisch gelegenen »Hakka-Weinhaus«, saß eine Runde bei in Salz gebackenen Shrimps, die ohnehin fand, die Chinesen sollten den Teufel tun. »Das wäre ja noch schöner«, sagte Mang Ke, der Dichter. »Wer so etwas vorschlägt, muss schon ein Riesenidiot sein«, fand Chi Nai, der glatzköpfige Wirt, der in einem früheren Leben einmal Maler war. Warum die Freunde sich so erregten? Weil es beim Essen in China stets um mehr geht als nur um Essen: um die Seele dieses Volkes. »Mach ein Experiment«, schlug Chi Nai vor, »nimm uns die Stäbchen weg, und drücke uns Gabeln in die Hand.« Er
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