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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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ein Land, in welchem dem Bürger kein Begehren an den Staat zusteht, der Staat hingegen sich nicht nur im Recht, sondern geradezu in der Pflicht sieht, seine Untertanen zurechtzukneten. Bevor nun einer denkt, unsere Behörden seien von solchen Ideen Welten entfernt, sei kurz darauf hingewiesen, dass wir uns das schöne Wort »Einwohnerveredelung« für unsere Überschrift nur geborgt haben: von der Hauptversammlung des Deutschen Städtetags in Mannheim.
    Die Erfolge bleiben übrigens nicht aus. »Das Benehmen der Pekinger in der Öffentlichkeit verbessert sich definitiv«, fand eine Studiengruppe der Volksuniversität Peking heraus. Die Forscher, berichtet »Xinhua«, hätten 320 öffentliche Plätze überwacht und 10000 Pekinger interviewt. Das Ergebnis verkünden durfte Professor Sha Lianxiang, der Chef des Forschungsteams: »Der Pekinger ›Zivilisationsindex‹ steht nun bei 73,38 (von 100)«, meldete der Professor stolz: »Das sind 4,32 Punkte mehr als noch vor einem Jahr.« 4,32 Punkte. Wird das reichen? Und wie hoch ist der Index in Zhongnanhai, jenem Teil des alten Kaiserpalastes, der seit Maos Tagen Sitz der Staats- und Parteiführung ist?

 

Chaos
     
     
     
 
1.  
Strukturelles Defizit im chinesischen Fußball, welches die Nationalmannschaft ein halbes Jahrhundert lang die Qualifikation zu einer WM gekostet hat.
     
2.  
Größter Albtraum des chinesischen Volkes. Eine Regierung ist dann gut, wenn sie für Ruhe und Harmonie sorgt. Perioden relativen Friedens wurden in China immer abgelöst von Zeiten des großen Chaos ( da luan ), in denen die Bevölkerung brutalst dezimiert wurde. Die KP setzt auf diese Furcht, wenn sie Konzepte wie Pluralismus und Pressefreiheit geschickt mit dem Ruch von luan beträufelt und gleichzeitig gebetsmühlenhaft → Stabilität ( wen ding ) beschwört, was übersetzt ihre unendliche Herrschaft bedeutet. Das ist auch deshalb nicht ohne Ironie, weil nur wenige das Land in verheerenderes Chaos gestürzt haben als diese Partei selbst. Nicht zu übersehen ist, dass die Chinesen luan auf dieselbe Weise fürchten wie ein Anonymer Alkoholiker die Flasche – die Anarchie steckt ihnen in den Knochen. Das macht sie zu einem ungleich fröhlicheren und spontaneren Völkchen als etwa die vonihnen gleichzeitig bewunderten und als unheimlich empfundenen Japaner. Es begünstigt auch das Durcheinander, wie es sich nicht zuletzt auf den Straßen beobachten lässt: Viele Chinesen sind Chaosmagneten. Wo das Straßenbauamt in anderen Ländern Mittelstreifen malt, stellt es in Peking Zäune auf – die einzige Möglichkeit, die motorisierten Anarchisten auf ihrer Spur zu halten. Wer der vor allem in den USA populären »China-threat«-Theorie anhängt, der verbringe einen Tag auf Pekings Straßen: Eine Gefahr sind Chinesen noch immer vor allem für sich selbst.
     
3.  
Gegenteil von luan ist he , die Harmonie. Chinas Regierung hat die »harmonische Gesellschaft« ausgerufen. Doch die Harmonie, die die Partei im Sinn hat, ist keine zwischen Gleichen. Es ist jenes Korsett, das Chinas Herrscher seit Jahrtausenden ihrem Volke umschnürten, gemäß den Worten des Konfuzius: »Der Herrscher sei Herrscher, der Untertan sei Untertan.« Es ist die Harmonie zwischen Befehl und Gehorsam. Eine Harmonie, die sich nicht sattsehen kann an minutiös choreografiertem Folklorekarneval von Tibetern, Mongolen und Uighuren, die zur Erbauung ihrer Herrscher dankbar lächelnd singen und tanzen. Es ist eine Harmonie, in der sich Denkende und Sprechende schnell der Subversion verdächtig machen. Die Ruhe, die sie schafft, ist Friedhofsruhe. » Ich bin harmonisiert worden«, heißt unter chinesischen Internetbenutzern: Mein Blog ist zensiert oder gelöscht worden. An der Pekinger Volksuniversität stand einst eine Statue von Mao Zedong, seit kurzem steht da eine von Konfuzius. Noch einmal also der alte Meister: »Die Tugend des Herrschers ist wie der Wind. Die Tugend des kleinen Mannes ist wie das Gras. Wenn der Wind bläst, beugt sich das Gras.«

 

Gemeinschaftssinn.
Oder: Das Volk der Gruppenegoisten
     
     
    Es kursieren unter händeringenden chinesischen Intellektuellen die verschiedensten Erklärungen dafür, warum eine Moralkampagne nach der anderen an den Leuten abperlt. Die einen machen die Kulturrevolution dafür verantwortlich, welche Chinas alte Werte zerstört habe, die anderen zitieren den Reformer Liang Qichao, der schon im 19. Jahrhundert klagte, was den Chinesen am meisten fehle, sei

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