Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
die »Infantilisierung« der erwachsenen Chinesen nennt. Der Kaiser soll sein Volk nicht nur »wie ein Kind lieben«, er wird es auch als solches behandeln.
Die Patriarchen versuchen, das Volk »gerade zu richten«, wie es in den Klassikern heißt, und begleiten ihre Belehrungen mit der Androhung von Strafen (Chinas Justizministerium hieß zwei Jahrtausende lang »Strafenministerium«). Jeden Versuchder Gesellschaft, sich selbst zu organisieren, empfinden sie als Bedrohung: deshalb die gnadenlose Verfolgung der Falun-Gong-Sekte, deshalb die oft hysterischen Reaktionen der Behörden, wenn sich irgendwo auch nur eine Umweltschutzgruppe ohne den Segen der Funktionäre bildet. Idealismus ist gefährlich, und gemeinschaftliches Zusammensein, das nicht der Befriedigung unmittelbarer und ausschließlich körperlicher Bedürfnisse (Essen, Sport) dient, ist automatisch verdächtig: Unangemeldete Rockkonzerte ziehen ebenso das Misstrauen der Behörden auf sich wie Freiwillige, die eine Gruppe zur Unterstützung von Aidskranken bilden.
Rechtes Verhalten erfolgt oft mehr aus Angst vor Sanktionen und vor dem Gerede der anderen denn aus moralischer Überzeugung oder verinnerlichten Prinzipien. Eines der chinesischen Zeichen für Charakter, pin , besteht nicht zufällig aus drei Mündern:.
Gefährlich für ein Gemeinwesen aber kann es werden, wenn ein unter solchen Voraussetzungen existierendes Volk ebenjenes Korsett verliert, das für den Zusammenhalt sorgt. Wenn es Katastrophen erleidet, wie es die Kulturrevolution (1966–1976) war: In der Kulturrevolution haben Mao und seine Inquisitoren Kinder gegen ihre Eltern, Schüler gegen ihre Lehrer und Ehefrauen gegen ihre Männer aufgehetzt. Ein ganzes Volk hat sich Jahr um Jahr gegenseitig denunziert und ins Gesicht geschlagen; die eben noch einander Treuesten und Nächsten spuckten sich plötzlich an, und in nicht wenigen Fällen trieben sie einander in den Tod. Ein Lehrer schrieb seiner Frau ein Liebesgedicht, die Frau verriet ihn, er landete im Arbeitslager in der Wüste Ningxias, das Urteil: drei Jahre. Kein seltenes Schicksal. »So ist das jetzt: Ernste Dinge sind ein Witz, und das Absurde ist die Wirklichkeit«, heißt es in dem diese Zeit beklemmend wiedergebenden Roman »Die Hälfte des Mannes ist Frau« von Zhang Xianliang. Ein solch traumatisches Erlebnis verdaut ein Volk nicht so schnell. Oberflächlich mögen die Narben verheilt scheinen – unter der Hautschmerzen sie weiter: Die Kulturrevolution hat die Balance des Zusammenlebens der Chinesen nachhaltig erschüttert. »Ihr Erbe wird uns auf eine lange, lange Zeit verkrüppeln«, schrieb Zhang Xianliang. Die Menschen, die damals jung waren, sind heute in ihren Vierzigern und Fünfzigern, und noch immer zirkuliert das Gift von damals in ihren Blutbahnen: ein tiefes Misstrauen. Bis heute erlaubt die Regierung keine öffentliche Auseinandersetzung mit jener Zeit, die an die Wurzeln reichte. »Keiner traut dem anderen«, findet eine 42-jährige Pekinger TV-Produzentin. Und eine taiwanische Rechtsanwältin, die in China Geschäfte macht, sagt, sie habe das Gefühl, im Moment herrsche hier »der absolute Egoismus«. Gemeinschaftssinn sei oft nur zur Schau gestellt: »Viele meiner Geschäftspartner würden, ohne zu zögern, auch gegen die Interessen ihrer eigenen Familie handeln.«
Hinter dem neuen Wohlstand verbergen sich orientierungslose Seelen. Wenn der Kaiser der Polarstern ist, nach dem sich alle richten; wenn er allein durch Ausstrahlung seiner Tugend, de , das Reich ordnen soll – was passiert dann, wenn es ihm an Tugend gebricht? Wenn die Funktionäre der glorreichen Kommunistischen Partei, die einst als Muster an Selbstlosigkeit, Aufopferung und Fleiß galten, plötzlich ein ganz anderes Vorbild liefern, nämlich wie man durch persönliche Bereicherung und Unterschlagung reich wird, wie man das Volksvermögen durch die Hintertüre aufs eigene Konto privatisiert? Dann denken viele einfache Chinesen das: »Du da oben unterschlägst vier Millionen? Na gut, stehle ich halt 400. Ich wäre doch dumm, wenn ich es nicht täte!« Der 74-jährige Kong Deyong sagte uns das, ein Nachkomme des Konfuzius in der 77. Generation, vor allem aber: einer, der sein Geld in Hongkong durch die harte Arbeit eigener Hände erworben hat. »Ein großes Stück Holz, an dem Millionen Ameisen nagen. Das ist China heute. So kann das Land nie gesunden«, seufzte er. Wir standen im Vorhof des Palastes der Familie Kong in dem gemütlichen
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