Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Städtchen Qufu. DerGeschäftsmann Kong Deyong war der Letzte der Familie Kong, der in diesem Palast zu Hause war, bevor die Japaner einmarschierten, aber er ist kein Moralapostel der alten Schule. Ein charmanter Lebemann. Mit dem Grüpplein der neuen Konfuzianer, die dem nach Orientierung dürstenden China die alten Rezepte verschreiben wollen, hat er nichts am Hut. Mit den Kommunisten, die ihn einst misshandelten und für Jahre ins Lager steckten, weil er den Namen seines berühmten Ahnen trug, allerdings noch weniger. »Die öffentliche Moral verfällt«, findet Kong. Am Morgen hatte die Zeitung erneut von einem Fall berichtet, in dem ein Kindergartendirektor den Kindern eines konkurrierenden Kindergartens Rattengift ins Essen getan hatte, weil sein eigenes Geschäft schlecht lief. »Mao hat Buddha, Laozi und Konfuzius totgeprügelt. Jetzt ist er selbst tot. Und an Jesus glauben wir nicht«, sagt Kong Deyong. »Was bleibt uns?«
Chinas Städte haben heute Wolkenkratzer, Internet und MTV. Aber wer gegen die Fassaden klopft, wird feststellen, wie hohl das oft klingt. Dahinter gärt etwas, was noch keine Form gefunden hat: ein Sehnen, ein Hunger. Da starren Löcher, klaffen Risse, harren Fragen ihrer Antwort, die sind doppelt so alt wie diese Volksrepublik, mindestens, aber es hat auf der Suche nach Antworten nicht geholfen, dass die Kommunisten fünf Jahrzehnte das Denken verboten haben und manchmal auch das Fühlen und Hoffen. Das Kantoner Hochglanzmagazin »New Weekly« hob unlängst den großen Lu Xun als Holzschnitt aufs Titelbild. »Alles, was wir heute verfluchen möchten«, lautete die Titelzeile, »hat Lu Xun schon verflucht.« Es ist fast tragisch: Einen Kaisersturz, eine Republik, einen Bürgerkrieg, ein kommunistisches Experiment und Dutzende von Millionen Tote später prangen dieselben alten Fragezeichen an der Wand. Man kann sie ignorieren, man kann sie missdeuten, man kann sie verhängen an einem Tag mit politischen Parolen und am nächsten mit glitzerndenPlakaten, die Sonderangebote versprechen, man kann sich berauschen an großen Utopien oder an Wandel und Profit – davon gehen sie nicht weg. Es sind Fragen, die den Kern des Wesens und Daseins dieser Nation berühren und bei deren Beantwortung China keinen Schritt weitergekommen ist: Den Wurzeln von Korruption und Machtmissbrauch stellen diese Fragen nach, legen Selbsttäuschung und Identitätssuche bloß, Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. Wie soll China umgehen mit der Welt, die sich ihm aufgedrängt hat und die es nie mehr wird wegzaubern können? Und immer wieder diese Frage: Wie gehen Chinesen miteinander um? Der hellsichtige Lu Xun also. Eine »Menschenfresserkultur« hat er sie genannt, die chinesische Kultur: Sie sei nichts als ein Festmahl aus Menschenfleisch, den Reichen und Mächtigen zum Genuss zubereitet. Die »Sklavenmentalität« seiner Landsleute hat er gegeißelt: »Wie leicht wir doch zu Sklaven werden können«, schrieb Lu Xun, »und wie äußerst zufrieden wir noch damit sind.« Ja, meinte er bitter, ab und zu flackere schon Hoffnung auf in den Herzen der Chinesen – nämlich die, »andere zu versklaven oder zu fressen und darüber zu vergessen, wie sie selbst versklavt oder gefressen werden«. Am Ende blieb ihm nur ein Satz: »Rettet die Kinder.«
Wenn sie nicht längst mit Lu Xun bei den Würmern liegen, sind die Kinder von damals heute uralte Greise. Mit dem bisschen Augenlicht, das ihnen geblieben ist, blicken sie auf ein China, in dem es vielleicht noch nie so viele Nischen gab wie heute, Freiräume, in denen die Menschen über ihr eigenes Tun und Lassen bestimmen können. Ob sie glücklich sind? Vieles ist anders, einiges ist wie damals. Noch immer jedoch lebt die Mehrzahl der Chinesen in den von Lu Xun beschriebenen Hackordnungen. Noch immer trifft man Leute wie jenen jungen Ingenieur, der mir in einem Hotel in Guangxi über den Weg lief. »Du willst ein Mensch sein, wo die anderen Tiere sind?«, sagte er. »Du kannst es schon probieren. Aber du wirst zu den Verlierern gehören.«
Konfuzius
Meister Kong lebte von 551 bis 479 vor Christus im ostchinesischen Staate Lu. Zeit seines Lebens war er ein eher erfolgloser Wanderphilosoph, der vergeblich versuchte, die Herrscher der sich bekriegenden Fürstentümer für seine Lehre zu interessieren.
Konfuzius war erst einmal ein Revolutionär: In einer von Schamanen gedeuteten Welt, die die Lebenden mit den Toten und den Geistern zu teilen glaubten,
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