Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Die Klassiker Gefängnisstreifenmuster und Rüschenborte begegnen einem ebenso wie karierter Fleece und aufgestickte Teddybären. Wahrscheinlich hat auch diese Mode ihren Ursprung in heißen, schwülen Sommern. Die ließen den Leuten in den engen Gassen Schanghais oft keine andere Wahl, als ihr Nachtlager im Freien aufzuschlagen, auf demGehsteig, wo sich bald enge Bekanntschaften mit des Nachbars Nachtgewand entwickelten – der Pyjama hatte neuen Lebensraum erobert, und im Laufe der Zeit wurde er für die Schanghaier Altstadtviertel das, was der Jogginganzug für Berlin-Neukölln ist. Heute gibt es in Schanghai eigene kleine Schlafanzugshops, die jeden Herbst eine Winterkollektion anpreisen: dick wattiert und mit neuen Mustern. Man hat als Schanghaier schließlich einen Ruf zu verteidigen. »Die Leute hier werfen sich nicht irgendeinen alten Pyjama über, wenn sie auf die Straße gehen«, hat die Moderedakteurin Li Yan beobachtet: »Sie ziehen den schönen an.«
Jenseits der Kleiderordnung hat die Stadtregierung vor allem einen Wunsch an ihre Bürger: »Sei ein liebenswerter Schanghaier!« Unter diesen Titel hat sie eine Kampagne gestellt, die bis zur Expo 2010 das Unmögliche möglich machen sollte. Als – noch vor der Expo – in einer amerikanischen Umfrage nach freundlichen Weltstädten gefragt wurde und Schanghai den achten Platz unter dreiundzwanzig Teilnehmern belegte, da fasste die Zeitung »Shanghai Star« die Reaktion in der Stadt auf das Ergebnis in diesem Satz zusammen: »Die Liste kann nur ein Ausländer erstellt haben.« Als ich das las, war mein erster Gedanke: Die Schanghaier fühlen sich ungerecht beurteilt und denken, sie hätten einen besseren Platz verdient. Von wegen. Der »Shanghai Star«-Artikel führte im Detail aus, warum Schanghaier in ganz China als arrogant, selbstsüchtig und kalt gegenüber ihren Mitmenschen gelten, dann erklärte er, warum diese Einschätzung durchaus ihre Berechtigung habe – warum also Platz acht im Gegenteil völlig unverdient sei. Die Reporter der Zeitung untermauerten ihre Beweisführung mit einem kleinen Experiment: Sie ließen, wie zufällig, adressierte und frankierte Briefe fallen, um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis ein hilfsbereiter Finder sie in den Briefkasten stecken würde. »20 Minuten später kehrten unsere Reporter zurück und entdeckten zu ihrer Überraschung, dass der Umschlag geöffnetwar – und die 60-Fen-Briefmarke gestohlen«, meldet die Zeitung. Zugegeben keine sehr repräsentative Untersuchung, aber in den Augen der Schanghaier Journalisten offenbar typisch für ihre Erfahrungen mit der eigenen Stadt.
Einerseits muss man ja froh sein, dass die Moralpredigten der Regierung nur mehr ein schwaches Echo sind von Maos Plänen für einen »neuen Menschen«, die ganz China in ein einziges Umerziehungslager verwandelten. Andererseits könnte man angesichts der moralischen Verfassung der KP und ihrer Kader laut »Heuchler!« rufen. Was wiederum mindestens zwei originelle Standpunkte zuließe. Den einen hat vor mehr als sechs Jahrzehnten der Schriftsteller Qian Zhongshu formuliert: »Nur ein Dummkopf schimpft ›Heuchelei‹, wenn die Unmoralischen sich zu Belehrungen aufschwingen. Meine Entgegnung darauf: Was soll daran schlecht sein? Geheuchelte Moral ist viel kostbarer als Ehrlichkeit. Wenn ein Prinzipientreuer Moralpredigten hält, dann ist das nichts Besonderes – wenn aber jemand ohne moralische Überzeugungen andere Menschen belehrt, das zeugt wirklich von Talent...« Das Problem mit diesem Standpunkt ist, dass dabei die Verderbtheit der Prediger ihrer Gemeinde nicht allzu offensichtlich sein darf. Für ein zweites Urteil sei hier Laozi bemüht, der Urahn der daoistischen Philosophie, dem die ständige Belehrungswut der Konfuzianer schon vor 2500 Jahren auf die Nerven ging: »Schafft ab die Heiligkeit, verwerft die Klugheit – die Menschen werden hundertfach gewinnen. Schafft ab die Güte, verwerft die Rechtschaffenheit – die Menschen werden wieder einander lieben. Schafft ab die Geschicklichkeit, verwerft die Gewinnsucht – keine Diebe und Räuber wird es mehr geben«, schrieb er im »Daodejing«. Laozis anarchistische und nicht unsympathische Utopie gipfelt in dem Urteil: »Der beste aller Herrscher ist der, von dessen Existenz man nichts weiß.«
Leider reichte der politische Einfluss der Daoisten nie weit über die Höhlen und Bergtäler hinaus, in denen sie ihrenEinsiedlergedanken nachhingen. Und so ist China noch immer
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