Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Gemeinschaftsgeist. »Es braucht richtige Erziehung: Bildung, die in einem selbst verankert ist«, sagt ein Pekinger Filmer, »nicht bloß geheuchelten Gehorsam: Wenn die Kampagne vorüber ist, ist wieder alles so wie zuvor.« Der oft beklagte Mangel an Gemeinschaftssinn ist ein interessantes Phänomen. Der Spucker im Park würde sich hüten, in den eigenen Hausflur zu spucken. Chinesische Wohnungen sind selbst im Staubloch Peking meist so blitzeblank gewischt und poliert, dass jede schwäbische Hausfrau vor Neid erblassen würde. Und gleichzeitig finden viele Chinesen nichts dabei, nach dem Essen im Zug ihre leere Styroporschachtel aus dem Zugfenster zu werfen, und wenn man sie der Schaffnerin in die Mülltüte tut, dann wirft diese später die Tüte als Ganzes hinaus in die Felder.
Chinesen zeichnen sich gern als selbstlos im Kontrast zu den angeblichen Egoisten aus dem Westen. Das Selbstbildnis hält allerdings schon vor den eigenen Sprichwörtern nicht stand: »Ein Chinese für sich ist wie ein Drache«, heißt es da, »zehn Chinesen zusammen sind wie ein Sack Flöhe.« Von wegen Kollektiv. Chinesen blicken manchmal neidisch auf die Japaner, wären gerne selbst so diszipliniert, zögen gerne auch alle an einem Strang: Was man da alles erreichen könnte, wenn 1,3 Milliarden gemeinsam marschierten! Leider haben schon 13 Chinesen die größte Mühe, sich auf eine Richtung zu einigen – was sie in gewisser Weise sympathisch macht. Der behauptete Geist der Aufopferung und Selbstlosigkeit jedenfalls konzentriert sich in China im Normalfall auf die zi ji ren , die »eigenen Leute«, vor allem also auf die Familie und das sie einbettende Netzwerk von Freunden. Chinesen ziehen gerne Zirkel und teilen die Welt ein in »innen« und »außen«. Sie sind Gruppenegoisten: Für die eigenen Leute ist man bereit, alles zu tun; was außerhalb des eigenen Kreises geschieht, kümmert einen erst einmal nicht. Chinesen nehmen das Wort »Nächstenliebe« wörtlich: Man liebt natürlich seine eigene Familie über alles. Der verstorbene große Sinologe Wolfgang Bauer hat dies einmal auf Nachfrage als einen Punkt genannt, wo der Westen von China lernen könne: Schließlich ist derjenige schnell überfordert, dem wie im christlichen Kulturkreis aufgetragen ist, die ganze Welt zu lieben. Wer sich hingegen konkret um seine nächste Umgebung zu kümmern hat, der trägt leichter Wärme in die Welt – und tatsächlich erscheint einem China oft herzlicher und wärmer als etwa Deutschland. Ausländer sollten dabei allerdings nicht vergessen, dass Chinesen generell zu »Ausländerfreundlichkeit« neigen, dass zumindest jenen, die aus dem Westen kommen, privilegierte Behandlung widerfährt und Chinesen ihnen gegenüber oft um einiges freundlicher sind als zu ihren eigenen Landsleuten. Die Kehrseite der chinesischen Herzlichkeit gegenüber Verwandten und Freunden ist eine oft zubeobachtende Teilnahmslosigkeit gegenüber Fremden: bei den Schaulustigen an einer Unfallstelle zum Beispiel, wo alle glotzen und keiner hilft. Es vergeht in Peking kaum eine Woche, ohne dass eine Zeitung oder ein TV-Sender einen solchen Fall aufgreift und Expertenrunden die fehlende öffentliche Moral wortreich beklagen.
Eines lassen sie dabei meist aus: die Rolle des Staates. Die Chinesen seien »wie eine Schüssel loser Sand«, hat Sun Yatsen einmal gesagt, der Vater der demokratischen Revolution von 1911: Milliarden von Körnlein, die nichts zusammenhält. Es ist mein Verdacht, dass es nicht die Unfähigkeit der chinesischen Gesellschaft zur Selbstorganisation ist, die nach einem starken Staat verlangt und ihn hervorbringt, sondern dass umgekehrt ein Schuh daraus wird: dass es der chinesische Staat ist, der sich die Gesellschaft bewusst als Krüppel hält. »Ein schwaches Volk bedeutet einen starken Staat, ein starkes Volk bedeutet den Untergang des Staates«, heißt es im »Buch vom Fürsten Shang«, einem Klassiker der Schule der Legalisten, die vor mehr als 2200 Jahren Chinas erstem Kaiser die Regierungsphilosophie lieferten: »Gut regierte Staaten setzen deshalb alles daran, das Volk zu schwächen... Ein schwaches Volk hält sich an Gesetze, ein zügelloses wird übertrieben eigensinnig.« Keinen Kaiser bewunderte Mao Zedong mehr als den ersten.
In dieses Muster passt die Verdummungspolitik Maos, der ein paar Jahre lang alles in den Staub prügeln ließ, was nach Intelligenz roch. Es passt auch das, was der in den USA lehrende chinesische Historiker Sun Longji
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