Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
sprachlos.
Propaganda.
Oder: Wein, der kein Wein ist
In den »Jade-Aufzeichnungen«, einem alten daoistischen Buch, werden in einem detaillierten Plan die vielen Kammern und Stockwerke der Hölle beschrieben. Direkt unter dem zehnten Palast der Hölle steht der Turm des Vergessens. Der Turm hat 108 Zimmer, und in jedem Zimmer stehen Kelche mit »Wein, der kein Wein ist«. Frisch angekommene Seelen müssen ihren Kelch zur Neige trinken, bevor die Entscheidung über Ort, Zeit und Form ihrer Wiedergeburt fällt. Der Trunk nimmt ihnen all ihre Erinnerungen an ihr vorheriges Leben. Dann werden sie in den Höllenfluss geworfen und am Fuß einer roten Mauer wieder ans Ufer gespült. Auf der Mauer steht zu lesen: »Ein Mensch zu werden ist leicht. Das Leben eines Menschen zu führen ist hart. Sich ein zweites Mal zu wünschen, ein Mensch zu werden, ist noch härter.« Zwei Dämonen ziehen die Seelen dann an Land und weisen ihnen ihren Platz im neuen Leben zu. Der eine Dämon trägt den Namen »Das Leben ist kurz«, der andere heißt »Der Tod hat Abstufungen«.
Noch unter dem Eindruck des Gemetzels der Armee an friedlichen Demonstranten 1989 schrieb der junge ArbeiterführerHan Dongfang dies: »Wer mich hören kann, der merke sich, was ich sage. Ich möchte im nächsten Leben kein Chinese sein. Sei kein Chinese. Es ist zu schrecklich, Chinese zu sein. Zu traurig.« Es stimmt schon, diese Worte entsprangen extremem Aufruhr und Unglück, und doch schwimmen sie auf einem Strom, der große Teile des chinesischen Bewusstseins durchzieht. Viel zu lachen hatte dieses Volk nie, und noch heute, wo in den Städten bescheidener Wohlstand Einzug gehalten hat, kann man leicht den Eindruck bekommen, für viele Chinesen bestehe das Leben vor allem aus Leid und Prüfung. Das chinesische Wort für Glück ist kuai le : »die flüchtige Freude«, und wenn auch die Poeten fast aller Kulturen die Kurzlebigkeit jeden Glücks besingen und die Franzosen die gute Zeit in ihrem bonheur nach Stunden bemessen, so hat man doch das Gefühl, in China sei Glück ein besonders seltener und vergänglicher Schatz. Man braucht in China nur den Fernsehapparat anzuschalten oder ins Kino zu gehen, um festzustellen, dass chinesische Schauspieler sich noch heute vor allem durch zwei Dinge auszeichnen: durch schier unendliches Pathos und einen noch größeren Vorrat an Tränen. Traditionell enden chinesische Bücher und Filme gerne mit einer herzzerreißenden Trennung oder aber dem Dahinscheiden ihrer Protagonisten, und das Publikum darf froh sein, wenn sich bis zum Ende nur eine der Hauptdarstellerinnen entleibt hat. Die amerikanische Erfindung des happy ending hatte unter Chinas Literaten und Drehbuchschreibern nie viele Anhänger.
Man mag sich also kaum ausmalen, was für eine melancholische Angelegenheit in China das bedruckte Papier und der flimmernde Bildschirm wären, gäbe es nicht die KP und ihre Führer. Die nämlich haben beschlossen, dass das glückliche Volk zum Sozialismus gehört wie der Leberfleck zu Maos Kinn. Und was soll man sagen: Seit die Kommunisten an der Macht sind in China, hat das Glück einen Stammplatz auf der Titelseite aller Zeitungen. Vielleicht ist es ihre Art der Psychotherapie:Die um das Volk besorgten Herrscher versuchen es mit der Kraft der Suggestion und unzähligen Variationen der ewigen Schlagzeile »Morgen wird alles noch besser«. In China können sich nicht einmal die beklagen, deren letztes Stündlein geschlagen hat. »Zwei wegen Drogenhandels verurteilte Bauern aus der Provinz Yunnan kamen in den Genuss des neuesten Fortschritts in Chinas Justizsystem«, begann ein ganzseitiger Artikel in der Zeitung »Beijing Today«: »Anstatt vor dem Erschießungskommando zu stehen, wurden sie mit einer Todesspritze hingerichtet... Das zeigt, dass Chinas System der Todesstrafe immer zivilisierter und humaner wird.«
So wie die Yunnaner Bauern über die Todesspritze freuen sich die Tibeter über die Eisenbahnschienen, welche wagemutige chinesische Ingenieure über Permafrost und schroffe Schluchten Richtung Lhasa gelegt haben. Ob sie es aber an Seligkeit aufnehmen können mit dem Fernsehpublikum, dem es vergönnt war, Zeuge einer musikalischen Ode an dieses Jahrhundertprojekt zu werden? Es trat auf bei einer Abendgala im chinesischen Staatsfernsehen ein Eisenbahnerchor: die Sänger alle Männer um die vierzig, gekleidet in Overall, gelbe Gummistiefel und Sicherheitshelme. Das Blaumannballett ist eine feste künstlerische
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