Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
einstürzten und Tausende von Kindern unter sich begruben, wurden zum Schweigen gebracht. Eltern, die nachfragten oder gar gegen Korruption und Schludrigkeit in den Behörden protestierten, fanden sich im Polizeigewahrsam wieder. Der bekannte Künstler Ai Weiwei, der den Eltern bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit zu Hilfe eilte, wurde von Polizisten so verprügelt, dass er eine Hirnblutung erlitt und Monate später nur durch eine Notoperation in München gerettet wurde.
Hauptaufgabe der Propaganda ist es heute, den längst vollzogenen Abschied der Partei von der kommunistischen Utopie – also von ihrem eigentlichen Daseinsgrund – zu verschleiern und allmählich vergessen zu machen. Zu verhindern, dass es ihr ergeht wie dem Kaiser im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, wo schließlich ein kleines Kind den Mut findet, angesichts der nackten Majestät laut auszurufen: »Aber er hat ja gar nichts an«, und so den Bann bricht, unter dem das furchtsame Volk bis dahin stand. In China regiert heute nicht mehr der Kommunismus, sondern die nackte Macht. Ja, es gibt politischen Wandel in China, aber es ist nicht der vom Westen erhoffte. Es ist Zeit für den Westen, sich von einer lieben Illusion zu verabschieden: der Legende, dass der wirtschaftliche Aufstieg das Land demokratischer macht, dass mehr Wohlstand automatisch zu mehr Freiheit führt. Viele europäische Staatsleute sind Anhänger dieser These, ebenso ein großer Teil der Geschäftsleute, die in Peking aufkreuzen. Vielleicht weil sie wirklich daran glauben, vielleicht weil sie bequem ist. Sie stimmt bloß nicht. »Chinas Erfolgsgeschichte ist die ernsthafteste Herausforderung für die liberale Demokratie seit dem Faschismus der 1930er-Jahre«, schreibt der Chinakenner Ian Buruma. Denn in China ist zwar der Kommunismus tot – aber die Herrschaft der Partei quicklebendig. Das Regime ist dabei, sich zu häuten: Auseiner linken wird eine rechte Diktatur, eine Metamorphose, deren Resultate ebenso beeindruckend sind (städtischer Wohlstand, Rückzug der alten Ideologie) wie frustrierend (Selbstbereicherung der Elite, Entrechtung von Arbeitern und Bauern, Siegeszug eines neuen Nationalismus). Die Farbe der Macht hat sich geändert. Manche Beobachter sehen eine »Lateinamerikanisierung« Chinas, der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm wegen. Die Bauern von Fujin in Nordostchina sprechen in einem Manifest von der Verwandlung »von Kadern in Großgrundbesitzer und von Bauern in Leibeigene«. Wie vor der Revolution. Die Parteiführung nennt es »Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten«. Derweil sie auf der Suche ist nach neuen Rechtfertigungen ihrer selbst, soll die Propaganda auf der einen Seite mit formelhaften Beschwörungen der toten Geister die Sentimentalen im Land beruhigen, gleichzeitig aber – einer lang gezogenen Überblendung im Film nicht unähnlich – allmählich die Herkunft verschwimmen lassen und mit neuen Bildern und Parolen ersetzen. Die Bäuche ihrer Untertanen suchen die gewandelten Herrscher dabei zu gewinnen mit einem steten Anstieg des Wohlstands. Auf der einen Seite kann man es durchaus als Fortschritt und als ermutigend empfinden, dass dieser Staat und diese Partei eine Rechtfertigung ihrer selbst heute überhaupt für nötig halten, dass sie sich ganz offensichtlich zu Erklärungen genötigt sehen. Auf der anderen Seite ist es beunruhigend zu beobachten, wie sie sich als neues Opium für die Köpfe – vor allem junger Chinesen – den großchinesischen Nationalismus ausgeguckt haben.
Die Gleichung ist wieder eine recht simple, sie lautet: Wir machen China groß und stark, und wer gegen uns ist, der liebt sein Vaterland nicht. Das populärste Onlineangebot der »Volkszeitung« ist mittlerweile das »Forum Starke Nation«, in dem nach Auskunft des Webmasters vorwiegend Dreißig- bis Vierzigjährige meist gegen die USA und gegen Japan wettern. Vor allem der Zorn gegen Japan, der aus den Kriegsverbrechendes Landes gegen China herrührt, zu denen sich Japan bis heute nicht ausreichend bekennt, wird heute von der KP bewusst manipuliert und kultiviert. Von einer KP, die gleichzeitig mit japanischen Investoren wunderbar zusammenarbeitet. Nun ist blinder Nationalismus eine Flamme, die man nicht ungestraft schürt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass es Chinas Herrscher dereinst so geht wie Goethes Zauberlehrling, der seiner Besen nicht mehr Herr wird. Manche fühlen sich schon jetzt berufen, auf eigene Faust zu kehren. Das bekamen
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