Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Das ist eine ernüchternde, aber wichtige Erkenntnis. Der Siegeszug des Internets wird ebenso wenig wie der des Kapitalismus China automatisch in ein freies Land verwandeln. Und zweitens gibt das einen Vorgeschmack auf die Zukunft nach der KP – eine Erinnerung daran, dass die Kommunisten nicht nur ökologische und moralische Verheerungen anrichten, andenen künftige Generationen noch zu tragen haben. Warum Zensur und Propaganda auch heute noch so erfolgreich sind? Glaubensbekenntnisse werden nicht akzeptiert, weil sie vernünftig sind, sagte Oscar Wilde einmal. Sondern? Weil sie unablässig wiederholt werden. Wahrscheinlich ist er so simpel, der Mensch.
Natürlich sind sich die Leute bewusst, dass ihre Regierung darauf aus ist, sie über vieles im Dunkeln zu lassen, und dass es nicht die Hauptaufgabe von Chinas mittlerweile erstaunlich bunter Medienwelt ist, sie zu informieren. Umso größer ist die Lust auf Information, eine Lust, die sich in Krisenzeiten geradezu zu einer Gier auswächst – wobei es in der Regel ebendiese Krisenzeiten sind, in denen die Regierenden den Fluss der Information besonders streng kontrollieren, aus Furcht, die Zügel könnten ihnen aus der Hand gleiten. Es sind dies ideale Brutbedingungen für jenes ganz dem Volke eigene Medium: für das Gerücht.
China ist mittlerweile das Land mit den meisten Mobiltelefonen der Erde, in der Zahl seiner Internetnutzer hat es die USA überholt. Und während der letzten großen Krise vor dem Erdbeben in Sichuan, beim Ausbruch der tödlichen Lungenseuche SARS, spielten Handy und Internet tatsächlich eine große Rolle – wenn auch nicht jene, die sie vielleicht in anderen Ländern gespielt hätten, wo sie als Werkzeug benutzt worden wären für den Austausch neuester Informationen. Das verhinderte in China die Zensur. Stattdessen sorgten E-Mail und SMS dafür, dass eine wahre Flutwelle von Gerüchten mit nie gesehener Wucht und Geschwindigkeit übers Land schwappte. Vor allem per SMS reisten diese xiao dao xiao xi , die »Nachrichten des kleinen Weges«, wie sie in China heißen. »Geht nicht vor die Tür heute Nacht!«, warnte mich eine Nachricht in den Anfangstagen der Epidemie. »Armeeflugzeuge werden über Peking aufsteigen und giftige Chemikalien versprühen.«
In einer faszinierenden zweiseitigen Titelgeschichte zeichneteein paar Wochen später die Kantoner Zeitung »Südliches Wochenende« den Weg eines Gerüchtes nach, das sich mit rasender Geschwindigkeit innerhalb von nur vier Tagen über 14 Provinzen verbreitete und dabei die verschiedensten Metamorphosen erlebte. Schon gehört?, lautete die am häufigsten geraunte Version: Am Ort XY ist ein Baby zur Welt gekommen, das begann gleich nach seiner Geburt zu sprechen. Zündet Feuerwerk, sagte das Baby, und trinkt Suppe aus grünen Bohnen. Das wird das SARS-Virus vertreiben! Dann sei das Kind gestorben. In Orten, durch die das Gerücht zog, war es zu spontanen Menschenaufläufen und zum Abbrennen von Feuerwerk gekommen, Bohnen waren ausverkauft. Und so, wie das Volk das Virus fürchtete, so fürchtete die Regierung das Gerücht: Dutzende von »unverantwortlichen Gerüchteverbreitern« wurden von der Polizei aufgespürt und festgenommen, einige später zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Spannende an der Legende vom sprechenden Baby ist, dass sie in fast identischer Version schon Hunderte von Jahren alt ist. Das Spannende an der Reportage im »Südlichen Wochenende« (die sich vor allem aus Polizeiquellen speiste), dass beim Nachzeichnen der Reiseroute des Gerüchts Telefongespräche und SMS-Mitteilungen einfacher und bis dahin unauffälliger Bürger in den abgelegensten Ecken des Landes bis auf die Minute genau angegeben wurden: »Am Abend des 5. Mai, um 21 Uhr 31, sprach Frau Kong aus dem Bezirk Wenquan in der Provinz Hubei am Telefon: Ich habe gehört, dass eine Schwangere im Kreis Xian’andan-Berg ein Baby zur Welt brachte...« – was einen unfreiwilligen Einblick in das Ausmaß der Überwachung in China erlaubte.
Beim verheerenden Erdbeben im Frühjahr 2008 war die anfängliche Reaktion schon eine andere: Zeitungen und Fernsehen berichteten in den ersten Tagen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Es war eine kontrollierte Offenheit, serviert mit Bildern von einem sich kümmernden Premier, der als »Großväterchen« auftrat. Die alten Reflexe setzten jedoch schnellwieder ein: Reporter, die recherchierten, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass so viele miserabel gebaute Schulen
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