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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Strittmatter
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entdeckte Konfuzius den Menschen. Er machte ren , die Menschlichkeit, zu einer seiner zentralen Tugenden. Konfuzius ließ die Geister Geister sein und hieß den Menschen, an seiner Vervollkommnung zu arbeiten. Die goldene Regel - »Was du selbst nicht willst, das füge keinem anderen zu« - findet sich nirgends sonst auf der Welt so früh. Die von seinen Schülern aufgezeichneten »Gespräche des Konfuzius« ( Lun yu) sind ein Schatzkästlein sinnreicher Sprüche (»Lernen ohne zu denken ist sinnlos, aber Denken ohne zu lernen ist gefährlich«), denen kein Besucher von Botschaftsempfängen in China entkommt.
    Gleichzeitig schnürt die Lehre des Konfuzius den Menschen in ein enges Korsett von Ritus und Hierarchie: »DerHerrscher sei Herrscher, der Untertan Untertan«. Kinder haben ihren Eltern zu dienen, Frauen ihren Männern, Jüngere den Älteren. Wenn jeder um seinen Platz in der Gesellschaft weiß, dann stellt sich die Ordnung im Reich von alleine ein. Kein Wunder, dass Chinas Herrscher bald Gefallen fanden an der Lehre. Schon in der Han-Zeit (206 vor bis 220 n. Chr.) wurde der Konfuzianismus zur Staatslehre, die nächsten 2000 Jahre lang regierten die konfuzianischen Gelehrtenbeamten das Reich – dem Herrscher stets in Loyalität bis hin zum Selbstmord aus Treue verbunden.
    Vor allem der konfuzianisch begründete Untertanengeist und eine mit dem Gerede von »Menschlichkeit« bemäntelte Despotie erregte später den Widerwillen von Reformern. Lu Xun attackierte die »Sklavenmentalität« seines Volkes, sein Mitstreiter Hu Shi forderte 1919: »Zerschlagt den Laden des Konfuzius!« - keiner versuchte das anschließend gründlicher als Mao Zedong. Mao rühmte sich, den ersten Kaiser von China (221–210 v. Chr.) in den Schatten gestellt zu haben: Jener habe nur 460 Konfuzianer lebendig begraben lassen, ihm, Mao, seien dagegen 460000 zum Opfer gefallen.
    Jetzt, wo der Maoismus so mausetot ist wie Mao, erlauben die Parteiführer dem Konfuzianismus eine merkwürdige Wiedergeburt. In Anspielung auf Konfuzius haben sie das Ziel einer »harmonischen Gesellschaft« ausgerufen, westlichen Universitäten dienen sie mit erstaunlichem Erfolg die – von Peking finanzierten – »Konfuziusinstitute« an, und der erstaunlichste Bestseller der letzten Jahre sind die »Reflexionen« der Pekinger Journalismusprofessorin Yu Dan über Konfuzius: »Viele Menschen beschweren sich, dass unsere Gesellschaft nicht fair ist und ihr Leben schwer«, sagt Yu Dan: »Anstatt die Schuld anderen zu geben, sollten wir uns vielleicht selbst unter die Lupe nehmen.« Zehn Millionen verkaufte Exemplare bislang – die KP wird’s freuen.

 

Etwas zu erledigen haben
     
     
    Was denn? Egal. Will keiner wissen. Mit einem hingemurmelten »You shi« , »Ich hab noch was zu tun«, entschuldigt man sich in China immer und überall und stets höchst bequem. Egal, ob sich der Geschäftsfreund aus der laufenden Konferenz stiehlt oder der Gast sich vor dem Nachtisch drückt – die Zauberformel you shi wird jeweils mit verständnisvollem Nicken hingenommen und verbietet aufgrund einer mindestens → 5000 Jahre alten kulturellen Übereinkunft jede Nachfrage. Was Ausreden in China wunderbar praktisch macht: Die in Deutschland unvermeidliche Stocherei (»Ach ja?«, »Was denn?«, »Wohin denn?«) entfällt, ebenso das damit verbundene qualvolle Sichwinden und schamhafte Erröten. In China wird keiner zur Rechtfertigung und damit zur Lüge gezwungen, das gebietet die Rücksichtnahme auf das → Gesicht des anderen und ermöglicht beiden Seiten einen harmonischen Abgang. Letztlich ist es Respekt vor dem freien Willen: Die Entschlossenheit des Gegenübers zur Ausrede, zum Sich-Davonstehlen wird konstatiert, akzeptiert und ggf. notiert – aber nicht thematisiert. Wie immer kommen Gepflogenheiten dieser Art nicht nur segensreich daher. Mir begegnete einesolch verdrießliche Ausnahme neulich auf einer ansonsten leeren Landstraße, wo ich in meinem Auto einem in der Mitte der Straße fahrenden Lastwagen hinterherrumpelte. Bis der LKW plötzlich – ohne Vorwarnung und ohne jeden ersichtlichen Grund – eine Vollbremsung hinlegte. Nicht auf der rechten Spur, nicht am Straßenrand, nein: praktisch auf dem Mittelstreifen. Mein Auto knallte ihm hinten drauf. Ausgestiegen, vorgerannt, Fahrer brüllend zur Rede gestellt: Was er sich dabei denke, Idiot, wie ihm bloß einfallen könne, lebensgefährlich usw. Seine Antwort, knapp und lässig: »You shi!« Ich:

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