Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Fortschritt.« Wie auf Vertreter seiner Generation im Westen übte der Typus des jung an Drogenexzessen zerbrochenen Poeten und Rockstars eine besondere Faszination aus auf Hao Feng: ZurZeit unseres Treffens schrieb Hao gerade an einer Biografie von Jim Morrison und den Doors. Nebenher arbeitete er für den Chinaableger von MTV. »Ich bin optimistisch. Die Gesellschaft koppelt sich ab von der Politik, die Menschen werden allmählich gesünder«, meinte er. »Die Leute schaffen sich eigene Räume, die mit der Partei nichts zu tun haben: gehen zur Uni, verdienen Geld, schreiben Bücher, besuchen Schwulenbars. Ist mittlerweile alles kein Problem, auch wenn die Partei noch immer Angst hat vor der Pluralisierung, Angst hat vor Büchern. Wie dumm von ihr: Wenn die Menschen viele Ventile haben, wenn es Auswege und Nischen gibt, dann explodiert auch nichts.«
Es geht heute bunt zu in China. Gedichte lesen nur mehr wenige, Gedanken über Gesellschaft und Politik machen sich auch nicht viel mehr, das hat die Partei den Leuten schon erfolgreich ausgetrieben, aber ihre eigenen Räume tapezieren vor allem die jungen Leute täglich neu. Reinreden lassen sie sich dabei nicht mehr von der Politik, wohl aber von den gleichen Trendsettern, die auch die Möblierung des Lebens ihrer Altersgenossen in Hongkong oder Taiwan bestimmen: Es erobern jene vom Konsum diktierten Individualitätsschablonen das Land, die wir auch im Westen kennen, die aber in Asien um einiges hemmungsloser nachgelebt werden. Starbucks und Ikea für die aufstrebenden Officeladys, Korea-Schick für die Teenager.
Chinas städtische Jugend hungert nach Trends aus dem reichen, entwickelten Ausland: Das eigene Fernsehen ist noch immer zu grau und schulmeisterlich, die Schauspieler sind zu pathetisch, die Sänger zu steif. Fernsehserien aus Korea sind dagegen frisch und cool – und gleichzeitig der asiatischen Gesichter und der gemeinsamen Traditionen wegen vertrauter als Hollywood-Importe: »Die Mädchen sind wunderschön, und die Jungen sehen alle aus wie gemalt«, schwärmt eine Studentin. Mit Sex und Drogen haben Koreas Retortenstars nichts am Hut, auch das kommt an in China.
Konservative Chinesen sind trotzdem fassungslos, wie sich der Strom des Kulturaustausches umkehren konnte, wie die jungen Erben ihrer 5000 Jahre alten, großartigen Kultur plötzlich verkommen zu Konsumenten von »Kultur-Kimchi«, wie ein Kommentator in Anspielung auf Koreas scharf eingelegtes Nationalgemüse maulte: »Geschmacklich minderwertiges Zeug ohne großen Nährwert.« Ein Kommentator wies nicht zu Unrecht darauf hin, dass viele der koreanischen Kulturphänomene eigentlich Reimporte aus dem Westen seien: die blonden Haare, die Nasenringe, die weiten Hip-Hop-Hosen. Er unterstellte dem »neureichen Korea« ein »Minderwertigkeitsgefühl« gegenüber dem Westen – und China folglich einen »doppelten Minderwertigkeitskomplex«. Und deckte mit seiner sauertöpfischen Argumentation einen entscheidenden Grund auf für den sehnsuchtsvollen Blick der Jungen über die Grenzen: Chinas doppeltes Spaßdefizit.
Hedonismus hat sich Bahn gebrochen bei der jungen Generation, vielleicht wird dies nirgends deutlicher als bei der Einstellung zum Sex. »Von wegen sexuelle Revolution«, staunte der aus dem Londoner Exil zu Besuch in Peking vorbeischauende Poet Yang Lian in dichterischem Überschwang: »Zur Revolution kommen sie hier vor lauter Sex schon gar nicht mehr.« Eben noch staatlich verordnete Prüderie – und mit einem Mal: Alles geht.
Es ist nicht so lange her, da konnte einen eine außer- oder voreheliche Affäre ins Arbeitslager bringen. Heute erwischt die Polizei drei Hotelgäste bei einer Ménage à trois (so geschehen in Shenyang) – und lässt sie laufen, weil sich die Staatsanwaltschaft nicht mehr sicher ist, ob das nun in dieser Volksrepublik noch einen unzüchtigen Akt darstellt oder aber die Privatsache der drei ist.
Die neue sexuelle Freiheit geht einher mit der Entdeckung des Privaten. Das Chinesische kennt schon länger ein Zeichen dafür: si . Wie das Private in China jedoch angesehen ward, mag man daraus ersehen, dass si gleichzeitig »privat« und»egoistisch« bedeutet und dass bislang fast alle Wörter, die si als Bestandteil haben – von »selbstsüchtig« über »schmuggeln« bis »Vetternwirtschaft« –, negativ besetzt waren. Der Totalitarismus Maos trieb die Geringschätzung des Privaten in der chinesischen Kultur ins Extrem und radierte jede Trennung zwischen
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