Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
anschließendem Jüngsten Gericht entschlossen hat. Chinas Avantgarde hat sogar begonnen, nicht mehr nur ausschließlich für europäische und amerikanische Sammler zu produzieren, sondern sich ins öffentliche Bewusstsein des eigenen Landes einzuschleichen: Eine kleine Sensation für sich, und es soll hier nicht behauptet werden, diese Künstler hätten sich alle dem Schock um des Schocks willen verschrieben, Gott bewahre. Nur so viel: In dem Land, in dem die Künstler noch vor Kurzem »mit dem Fühlen und Denken der Massen eins« zu sein hatten (Mao Zedong), passieren mittlerweile Dinge, die würdenbei uns sofort verboten. Nicht, dass sie in China ausdrücklich erlaubt wären – es kümmert oft bloß keinen mehr. Vielleicht hat die Polizei auch gemerkt, dass es den meisten der jungen Künstler ohnehin mehr um Ruhm und Reichtum geht als um Rebellion und dass sich auch der viel umraunte »Untergrund« Ertrag bringend in dieses Streben eingeordnet hat: Wo er noch auftaucht, ist er mehr Marketingmasche als Ausfluss wirklicher Repression – Ausländer lieben den Kitzel des Verbotenen, und der Kunde ist heute auch in diesem Lande König. Auch die Freiheit der Kunst ist also eine vielschichtige Sache in China.
Die chinesische Sprache kennt das Wort zi you , »Freiheit«, erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Begriff war damals über Japan nach China importiert worden, gemeinsam mit seinen Vettern »Demokratie« ( min zhu ) und »Menschenrecht« ( ren quan ). Die ganze Immigrantenbande hat noch heute für einige Chinesen – vor allem für die an der Macht und für die konfuzianischen Schlags – einen negativen Ruch. Freiheit, das schmeckt nach: unverantwortlich und asozial, auf jeden Fall bedrohlich. Aber auch das ewige China ist einem ständigen Wandel unterworfen. »Seide, die man in blaue Farbe taucht, wird blau. Taucht man sie in gelbe Farbe, wird sie gelb«, sagte schon der Philosoph Mozi (486–376 v. Chr.): »Das gilt nicht nur für Seide, sondern auch für eine Person und für ein Land... Ein Land kann sich wandeln durch die Einflüsse, denen es ausgesetzt wird.«
Freiheit setzt Individuen voraus. Zi you bedeutet wörtlich: »Sich selbst folgen«, »von sich selbst ausgehen«. Auch das ein Grund, warum das Wort in schlechtem Leumund stand. Vor ziemlich genau einhundert Jahren schrieb ein Chinese diese Zeilen: »Obwohl es erst drei oder vier Jahre her ist, dass der Begriff des ›Individuums‹ in China eingeführt worden ist, betrachten ihn Leute, die angeblich die Zeichen der Zeit verstehen, als eine unerträgliche Schande. Wenn jemand als Individualist betitelt wird, dann gilt er gleich als Volksverräter.«
Und das singt eine Chinesin heute: »Lebe dein Ich aus / jeden Tag / du hast immer dein unverwechselbares, wunderbares Ich, oh, Ich / du willst Freiheit / keine Angst vor dem, was die anderen reden / Sei einfach du selbst.« »Scheine jeden Tag«, heißt dieses Lied des Hongkonger Schlagersternchens Kelly. Ich sah sie im chinesischen Staatsfernsehen bei einem Open Air in der Stadt Kunming. Und dass sie ihre Hymne an das Individuum vor Zuhörern sang, die vom Veranstalter alle in das gleiche T-Shirt gesteckt worden waren, alle die gleiche rote Baseballkappe trugen und alle im gleichen Takt kleine chinesische Nationalfähnlein hin- und herschwenkten, das machte die Szene noch mehr zu einem Bild für die miteinander kollidierenden Welten in diesem Land.
Im Pekinger Universitätsviertel Haidian trafen wir Hao Feng. Der ehemalige Philosophie- und Politikstudent Hao hatte 1996 ein Buch über die amerikanische Grungerockband »Nirvana« und deren Sänger Kurt Cobain geschrieben und – bezeichnend für die Umtriebigkeit der Chinesen – den Buchladen gleich dazu eröffnet. In seinem Laden lagen Werke aus von Albert Camus, Gedichtbände von Jack Kerouac und Arthur Rimbaud: ein Verlustgeschäft, das er mit den Gewinnen seines sich erstaunlich gut verkaufenden Nirvana-Buches finanzierte. »China ist noch immer sehr hierarchisch, und der Staat hat noch überall seine Finger drin. Es kann nur besser werden«, meinte Hao Feng. »Die von den Führern so oft beschworene ›Modernisierung‹ – was für ein Hundefurz. Das funktioniert nicht, ohne dass die Menschen zu sich selbst finden. Wie sollen sie sonst kreativ sein? Ich zeige in meinen Büchern den jungen Leuten, dass es noch andere Wege gibt als Schule, Uni, Abschluss, Job. Individualismus war hier ein Schimpfwort bis vor Kurzem. Ich sage: Es ist der
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