Gebrauchsanweisung für die Welt
ruhigstellen und es kann zwei Einsame dazu bringen, sich nahezukommen. Nicht viel anderes – noch dazu so formvollendet – kann da mithalten. Zuweilen funktionieren ein paar bedruckte Seiten wie eine Zauberpille: Man schluckt sie gemeinsam und wacht benommen wieder auf. Schön teuflisch, schön unberechenbar. Was könnten zwei Reisende einander an Innigerem schenken, als sich mit Sprache zu verwöhnen und anschließend in einem blauen Zug auf einen Sternenhimmel zu blicken, der verschwenderisch auf ein afrikanisches Land leuchtet?
Zurück zum Rucksack. Noch ein Teil muss rein. Es ist verdammt praktisch und unromantisch. Aber Reisen ist ja auch kein Aufbruch in die Flitterwochen, sondern oft, sehr oft, ein Kampf mit den Unwirtlichkeiten einer anstrengenden Welt. Seitdem ich das weiß, ziehe ich nicht mehr ohne ein Messer, mein Messer, los. Das Schlüsselerlebnis hatte ich als 13-jähriger Pfadfinder, der nach einem Gerät suchte, um eine geklaute Birnenkompott-Dose zu öffnen. Zwei Stunden war ich – linkisch und handwerklich auffallend unbegabt – damit beschäftigt, den Deckel zu entfernen. Hätte ich damals schon ein Schweizer Armeemesser (offiziell: Wenger Schweizer Offiziersmesser ) besessen, ich wäre ohne Schürfwunden und blutig gerissenen Fingernagel an das Obst herangekommen.
Inzwischen, nach vielen Jahren, habe ich den Film »127 Stunden« gesehen: So viel Zeit verbrachte der amerikanische Bergsteiger Aron Ralston in einem Canyon im Bundesstaat Colorado. Die fünf Tage und Nächte brauchte er, um seinen von einem Felsbrocken eingeklemmten (rechten) Arm zu befreien. Sofort fiel mir das Birnenkompott ein, denn auch Aron – dargestellt von dem großartigen James Franco – verfügte über kein rotes berühmtes Taschenmesser. Er hatte es zu Hause nicht gefunden und war deshalb mit einer untauglichen Klinge – made in China – losgezogen.
Der Unterschied zwischen dem Schicksal des 28-Jährigen und meinem als Knaben war gigantisch. Ich hätte im Notfall auf ein Kilo Nachtisch verzichten müssen, Aron aber, der leidenschaftliche Naturfreak, wohl auf sein Leben. Denn Hilfe von außen war nicht zu erwarten, zu versteckt lag die enge Schlucht. Bis er das Unmögliche dachte und sich entschloss, den Arm abzutrennen. Was zunächst scheiterte, denn kein Schweizer Stahl war zur Hand, sondern nur chinesisches Blech, völlig untauglich für das Durchschneiden kräftiger Männerknochen. Bis Aron, getrieben von letzter Todesangst, da nun ohne Nahrung und Wasser, zum nächsten Schritt bereit war: sich willentlich Elle und Speiche zu brechen und – noch jenseitiger aller Vorstellungskraft – die Nerven zu kappen. Ich war wenigstens tapfer genug, nicht wegzuschauen, als es (im Film) so weit war.
Gute Story, rühmenswerter Mister Ralston. Jeder, der das Kino verließ, hatte verstanden: »Don’t leave home without your Swiss army knife!« Denn die 75 Gramm passen noch in jeden Rucksack. Wie die Liebesgedichte von Brecht. Bedenkt man, was die zwei – Eisen und Papier – alles bewerkstelligen können, dann verbietet sich jede Diskussion.
Bitte Nachsicht, Leser, denn zuletzt soll noch etwas obenauf liegen: ein Kissen, groß genug für einen (Normal-)Hintern. Aus Plastik, aufblasbar, praktisch gewichtslos. Dieses Polster kann jeder Mensch weltweit zwischen sein Gesäß und den Boden legen, auf dem er sich gerade befindet. Und sich daraufsetzen, den Rücken strecken, die Augen schließen, den Mund halten und – meditieren. Sich somit ein Zubehör aneignen, das den Reisenden wie die Mutter aller Fertigkeiten begleiten sollte: Achtsamkeit. Wer sie meistert, ist der Zweiäugige unter den Blinden und der Hellhörige unter den Tauben. Den Unachtsamen eben. Er ist ein Meister, Tag für Tag.
Vielleicht doch ein Nachwort zum Ranzen: Vom fernen Himalaja-Königreich Bhutan kam vor Jahren die Kunde, dass alle im Land dafür Sorge tragen sollten, das »Bruttoinlandsglück« zu mehren. Weise Männer und Frauen hatten die Idee, dass Glück möglicherweise mit etwas anderem zu tun hat, als sein dickes Auto vor der Tür des Nachbarn zu parken. 55 Glücksforscher haben sich nun auf den Weg gemacht, die Einwohner nach dem Stand des Frohsinns zu befragen. Mithilfe eines »Bruttoinlandsglück-Erfassungsfragebogens«, 44 Seiten und 249 Fragen schwer. Die zauberhafteste darunter, so vermute ich: »Was sind für Sie die wichtigsten sieben Dinge, um ein glückliches Leben zu führen?« Die Antworten der Bhutaner sind noch
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