Gebrauchsanweisung für die Welt
dass ich in Russland bei einer Reportage einen Satz von Dostojewski entdeckt hatte: »Schönheit wird die Welt retten.« Und die Juwelierin konterte clever: »Nicht die Welt, aber mich.« Der Satz ist vielleicht noch weiser. Und so gibt es Leute (wie die 2,2 Millionen Einwohner von Paris), die sich für eine Heimat entschieden haben, deren Anblick sie jeden Tag tröstet. Hinwegtröstet über die Manifestationen der Hässlichkeit, mit der die (modernen) Barbaren so tatkräftig die Welt überziehen. Heimat als Trostpflaster.
Gewiss: Jeden Umtriebigen werden die Gesten der Routine, bisweilen, beruhigen. Der Gang zum Bäcker. Der Weg um drei Ecken ins Kino. Der Freund ein paar Metrostationen weiter. Die Freunde im Quartier. Das warme Gefühl, sich auszukennen, dazuzugehören. Die leise Befriedigung, für jedes Problem eine Telefonnummer parat zu haben. Heimat als ideale Gegend, um seine Brennstäbe aufzuladen. Und dabei zu erkennen, wie dankbar man wieder wird. Weil die Wasserhähne funktionieren. Weil kein Abort überquillt. Und weil niemand – auch nicht die chinesische Spitzelpolizei in Lanzhou – um zwei Uhr früh an die Hotelzimmertür pocht und wissen will, ob man mit einem Chinesen (!) im Bett liegt.
Heimat – ich rede jetzt als Europäer – verschafft einem die beschwingende Sicherheit, dass man sich zu jeder Zeit an jeden schmiegen darf (einverstanden sollte der andere sein, das schon). Und dass die Schlaflosigkeit aufhört, weil niemand nachts per Lautsprecher »Allah Akbar« brüllen darf. Und dass man sich, ganz allgemein geredet, weniger intensiv als Heuchler aufführen muss (weil das Weltreich der religiösen Frömmler jeder Couleur bei uns schon längere Zeit in Schranken verwiesen wurde). Und dass man Politiker, »Würdenträger« und alle anderen talking heads beschimpfen darf, ohne dafür gesteinigt oder am ersten Laternenpfahl der Hauptstadt aufgehängt zu werden. Und dass man einen Salat essen kann und hinterher nicht – mit Luftanhalten – auf eine Toilette wetzen muss. Und dass man einigermaßen pünktlich ablegt und nicht – wie in Kinshasa passiert – drei Wochen warten muss, weil der Kapitän und seine Bande einen Teil des Schiffsmotors auf dem Schwarzmarkt verkauft hatten. Und dass man nicht von der Überlegung geplagt wird, ob man um 13 Uhr oder – auf Empfehlung des bolivianischen Bankdirektors – erst um 17 Uhr zum Geldwechseln am Schalter vorbeikommen soll (um von der Inflation zu profitieren). Und dass man keine Lebenszeit verschleudert – wie beim Irren durch kubanische Restaurants, die erst wieder »mañana« servieren – bei der Suche nach einem Mittagessen. Und dass man kein gepanschtes Milchpulver bekommt – wie in einer Apotheke in Brasilien –, obwohl man Aspirin verlangt hat. Und dass man nicht in einem Krankenhaus – erlebt in Hinterindien – die eigens aus der Heimat mitgeschleppten Spritzen an das Personal abtreten muss (um gegen Tetanus geimpft und dabei nicht mit der letzten, in einer großen Schuhschachtel gefundenen, Nadel infiziert zu werden). Und dass man nie wieder einen Polizeiverschlag in Khartum verlassen muss, um auf dem Markt ein paar weiße Blätter zu kaufen, die gerade für das Ausstellen einer – völlig unnützen – »Aufenthaltserlaubnis« fehlten.
Heimat tut gut. Für einen Schreiber vielfach gut. Die Steckdose wackelt nicht, der Strom strömt immer, ich muss nicht – Tatort Peru – zwei Tage investieren, um ein gestohlenes Computerkabel zu besorgen, muss nur die fünf Meter vom Futon zum Schreibtisch zurücklegen: um loszulegen, um die Halden meiner Notizen der letzten Reise abzutragen, um mit dem elend schönen, elend anstrengenden Geschäft zu beginnen, die über Monate erfahrene Welt in Worte zu übersetzen.
Das ist, in aller Bescheidenheit, ein herkulisches Unternehmen. Sieben Tage die Woche. Und so singe ich täglich das Lied der Dankbarkeit über die Wohnung in der Heimat. Alles – die Stille, die Lage in einer Sackgasse, das flohfreie Bettzeug, das Treppenhaus ohne Fledermäuse, die zuverlässige Müllabfuhr, ah, die Putzfrau, ah, die Wäschefrau. Alles das und alle sie helfen mir beim Schreiben. Weil ich nur Bergmann sein muss, nur einer, der (fast) nichts anderes tut, als in sein Unbewusstes – das Synonym für Stollen, für Meer, für Unendlichkeit – hinabzusteigen: um mit einer Beute, einem Beutewort, zurückzukehren. Hoffentlich.
Und bin ich jeden Nachmittag fertig, ja fertig, dann muss ich
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