Gebrauchsanweisung für die Welt
nicht rucksackbehindert und in persönlicher Rekordzeit einem Bus hinterherrennen, der – das staublungenförderliche Katmandu ist mein Zeuge – zu früh (!) abfuhr, sondern packe Zigarillos, Zeitungen und Bücher ein und schlendere in mein Café. Und kein einziger freier Radikale saust. Und kein Dutzend Armseliger mit zwei oder drei übrig gebliebenen Leprafingern stellt sich mir in den Weg. Auch muss ich nirgends den Anblick schwer schuftender Kinder ertragen. Auch pfeift mich kein Polizist zu sich hinüber, um mich zu schröpfen, weil ich – passiert in Mombasa – angeblich zur falschen Zeit die Straße überquerte. Nein, völlig unbelästigt von den Schrecken und Schreckgespenstern dieser Welt erreiche ich die Terrasse, lächle dem Patron zu, setze mich und darf lesen und rauchen und denken. Mitten in Paris.
Jeder hat seine Gründe, warum er auf Heimat – wo immer sie sein mag, was immer der Mensch darunter versteht – nicht verzichten will. Ob er nun schreibt oder eine Fensterputzerei betreibt oder auf dem Bauernhof seines Vaters wirtschaftet. Wie eine stille Glut, wie ein Teil seiner DNA gehört die Sehnsucht nach ihr zu unserer Seelenlandschaft. Knapp achtzig Prozent der Deutschen sterben in der Gegend, in der sie geboren wurden. (Nun, in meinem Fall werde ich das verhindern. Ich gehöre zu denen, die sich eine neue Heimat gesucht haben, weil sie die alte nicht mehr ertrugen.)
Egal, ob alt oder neu, irgendeinen Ort gibt es, der uns immer wieder an seine Gegenwart erinnert. Wie eine Magnetnadel, die immer nur nach Norden ausschlägt. Wir ahnen, dass er unser Leben reicher macht. »Freundschaft«, schrieb Tucholsky, »klingt wie Heimat.« Liest man den Satz von hinten, stimmt er auch. Wie einen Freund will man sie nicht aus den Augen verlieren, will sie behüten und von ihr behütet werden.
Letztes Beispiel: Nach tagelanger Fahrt durch die Wüste erreichten wir – wir alle auf der Landefläche eines Trucks – Nyala, die Provinzhauptstadt Darfurs. Das Erste, was ich sah, waren abgerissene Kinder und Greise, die über einen Abfallhaufen wimmelten und nach Nahrung suchten. Und Azen, der hier wohnte und mit dem ich mich die letzten Tage über angefreundet hatte, sagte den unfasslichen Satz: »It’s a beautiful city, isn’t it?« Ein Wüstenloch, geschlagen von allen tausend afrikanischen Sünden. Aber hier lebten die Männer und Frauen, die Azen liebte. Hier musste es schön sein.
Mag alles sein. Und die Hymnen auf das Zuhause könnten ewig weitergehen. Doch irgendwann passiert das gerade noch Unvorstellbare: Der Überdruss kommt zurück. Lang lebe die Heimat, aber jetzt reicht es. Jetzt öffnet sich wieder die Herzkammer, die eine Weile stillhielt, jetzt sprudelt wieder das Fernweh. Und die Heimat nervt. Man kann sie nicht mehr sehen, nicht mehr ertragen. Und die Bäckerin auch nicht. Und nicht die Freunde, nicht den Briefträger, nicht die fette Nachbarin, nicht den Wichtigtuer, der im Hinterhof für die Mülltonnen verantwortlich ist, nicht das Blabla der Handy-Schwadroneure im Café, nicht die zermürbten Visagen, nicht die Voraussehbarkeit, nicht die Abwesenheit von Aufregung, nicht die Reden der Erste-Welt-Menschen, nicht das Wohlstandsgreinen, ja die plötzliche Erkenntnis, dass man auch greint, ja, selbst fürchten muss, vom Keim der Verdrossenheit niedergestreckt zu werden. Lebenslänglich lang. Bis man, ganz faul, ganz tot, liegen bleibt.
Um das zu vereiteln, haben die Götter die Sehnsucht erfunden. Dieses Ziehen im Herzmuskel, diesen Stachel, der uns daran erinnert, dass hinter der Heimat die Welt nicht aufhört.
Ich muss an Shane denken, einen Nordiren, den ich in Australien traf, wohin er in den Siebzigerjahren ausgewandert war. Der ehemalige Elektriker ist ein Lehrmeister an Radikalität. Als ich ihn nach dem Grund für den weiten Weg fragte, meinte er trocken: »Belfast stank mir«, und dann: »das Wetter, der Terror, die ewig gleichen Buddies mit den ewig gleichen Sprüchen.« Klar, Shane ist ein Sonderfall, er rannte davon, er gehörte zu jenen, die mit fliegenden Fahnen die Treue brachen. Um nie mehr zurückzukehren. Oder doch, einmal alle fünf Jahre. Um zu sehen, dass die Zurückgebliebenen »immer noch dort herumstehen, wo ich sie stehen ließ, in den Pubs, den hässlichen Straßen und Häusern«. Und er hat die Lehren gezogen. Denn auch in Australien kann einem das Leben verloren gehen. Im Trubel der Zeit-Totschlag-Industrie. Also verkaufte er eines Tages sein Business
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