Gebrauchsanweisung für die Welt
bisweilen List und Hirnschmalz, oft nur ein Glücksstern, manchmal nichts. Ganz sicher hilft nie: eine hochheilige Jungfrau um Beistand bitten, sich Richtung Mekka niederwerfen oder die Stirn an einer Klagemauer wundreiben. Denn Brecht hat es längst unmissverständlich formuliert: »Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.« Wo immer wir uns herumtreiben.
So, Reisender, schreibe dir noch den Satz von Mario Vargas Llosa ins Stammbuch: »Solange ich Illusionen und Neugier habe, werde ich nicht aufhören zu leben.« Natürlich gibt es Reisen, die erfüllen, ohne dass man um seine Gesundheit fürchten muss. Und ohne dass Illusionen und Neugier mit Herzversagen bezahlt werden müssen. Jedem seinen Gefahrenquotienten. Der eine verträgt fast nichts, der andere fast alles. Und viele viel mehr, als sie glauben, sich zutrauen zu können. Wie dem auch sei: Keiner darf mit einem 15-Watt-Herz durch die Welt glimmen. Es muss strahlen, muss gleißen, soll wie eine Leuchtspur für andere sichtbar sein. Und was erinnert uns dringlicher daran, dass wir eins haben, dass es heftig schlägt, dass es – jede Sekunde – existiert? Die Welt, was sonst. Wär sie nicht da, gäb’s nur ein Loch im Himmel.
Der magische Moment: Südamerika
Der von vielen verehrte »Meister der Reportage«, der Pole Ryszard Kapuscinski 1 , bemerkte einmal: »Die Reise als Versuch, alles zu erfahren – das Leben, die Welt, sich selbst.« Höher kann man den Anspruch ans Herumkommen nicht schrauben, mehr als alles kann es nicht liefern. Doch das Wort »Versuch« beruhigt, es tönt weniger aufdringlich. Keiner wird je alles erfahren, auch jener nicht, der ein Leben lang 24 Stunden pro Tag unterwegs ist. »The world is always bigger than you«, den Satz las ich bei Mickey Mouse in Orlando. Der stimmt, der stutzt jeden, den muss keiner retuschieren. Der hält eine Ewigkeit.
Die vorletzte Geschichte aus der Sammlung »Magische Momente« geschah in Mexiko. Obwohl das Land geografisch als Teil Nordamerikas gilt, gehört es – bedenkt man die Sprache, die Kultur, die Gesichtszüge, die Konquista – zum Süden des Kontinents, zu Lateinamerika. Natürlich habe ich auch bei dieser Gelegenheit nicht alles erfahren. Aber ich habe – inniger als zuvor – etwas erkannt, das zu den markantesten Spurenelementen eines Menschenlebens gehört. Auf witzige, hitzige, ja brutale Art erkannt.
Diesmal geht es nicht um einen Blick auf eine Landschaft, sondern um die Sicht, die Einsicht, in ein Menschenherz. Ich weiß von keinem Teil im Kosmos, das mich (uns) mehr beschäftigte. Und das sich widersprüchlicher und unfassbarer, grausamer und gütiger aufführte als etwas, das – wenn wir es als Zentrum unserer Empfindungen verstehen – gar nicht existiert. Nicht physisch, nicht sichtbar, nie genau da, wo wir es vermuten. Denn in keinem Röntgenapparat taucht es auf. Es ist etwas vollkommen Unsichtbares, das uns in Atem hält. Wenn das nicht magisch klingt.
Ich recherchierte über La lucha libre , die mexikanische Version von Catch-as-Catch-Can. Mehr kann ein »Sport« dem Macho nicht bieten: Sieger und Besiegte, Noble und Böse, die Pose prall zuckender Muskeln, die viril fluoreszierenden Pseudonyme, die spitzen Schreie der weiblichen Anhängerinnen, die knallglitzernde Garderobe, ihre geheimnisumflorten Masken, die Show, das Blendwerk, der Mann als kraftspeiender und potenznärrischer Gockel und: eine Sprache, die bei jedem Wort aus den Nähten platzt, so gefräßig und donnernd, so monumental und bombig kommt sie daher.
Dass alles Lug und Trug war, dass jeder Sieg und jede Niederlage vorher – zwischen Bierkanistern in der Garderobe – abgesprochen worden waren, das störte (und wusste) das Volk nicht. So wie es zur Jungfrau von Guadalupe betete, so betete es zu den »luchadores«. Doch die irdischen Götter waren immerhin lustig, pfiffig, draufgängerisch und heldenhaft bereit, sich preiszugeben. Bis aufs Blut aus allen Poren. Die Show war getürkt – aber meisterhaft. Die als »tödlich verfeindete Bestien« angekündigten Preiscatcher – sie trällerten gerade noch ein Lied unter der Männerdusche – waren famos ehrliche Betrüger. Glaube, Liebe, Beschiss. Aber sie rauften, als ginge es um ihr Leben. Und um etwas – in ihren Augen – noch viel Wichtigeres. Das ich erst zuletzt verstand.
Die Geschichte dieser Erfahrung fand während eines Kampfabends in León statt, genau 400 Kilometer nordwestlich von Mexico City. Die Gladiatoren fuhren wie
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