Gebrauchsanweisung fuer Indien
Führer ›Guru‹, sondern das Wort ›Sikhismus‹ selbst ist von dem Wort Shishia abgeleitet. Die ›Sikhs‹ sind also die ›Schüler‹ der Gurus. Der erste von ihnen, Guru Nanak, bestimmte seinen Nachfolger vor seinem Tod im Jahre 1539, und er betonte, daß die Persönlichkeit und die Kraft auf mystische Weise an seinen Nachfolger weitergereicht werden würde. Da sich die Sikhs in späteren Generationen militärisch zur Wehr setzen mußten und schließlich ein beachtliches Imperium eroberten, wurden ihre Gurus auch zu Generälen, und zwei von ihnen, Guru Arjun und Guru Tegh Bahadur, wurden von den Moguln wegen Aufruhr hingerichtet. Der zehnte und letzte der Gurus, Gobind Singh, verkündete das Ende der Guru-Nachfolge. Von nun an lag die spirituelle Autorität beim Heiligen Buch, dem schon erwähnten Adi Granth. So hatte der Sikhismus die Entwicklung der Ausbildungssysteme vorweggenommen, die sich von der Guru-Shishia-Parampara zu einem kanonisierten und systematisierten Unterricht, von mündlicher Unterweisung zu schriftlicher Verweisung verwandelten.
Nahe eines heiligen Flusses, der Narmada, hatte ich einen alten Sadhu kennengelernt, der Güte und Demut ausstrahlte – auch unter Sadhus eine Seltenheit. Er war spät am Abend zu dem Shivratri-Fest in dem Tempel der Nandera-Brahmanen erschienen. So unsicher reagierte er auf die üblichen Ehrbezeugungen – sie schienen ihm peinlich zu sein –, daß ich vermutete, er sei erst kürzlich Sannyasin geworden. Das bestätigte sich, als ich ihm vorgestellt wurde. Erst nach seiner Pensionierung, nach dem Tod seiner Frau, war er in einen Ashram in Rishikesh eingetreten. Einige Stunden später lud er mich zu sich nach Hause ein, in seine Heimatstadt Baroda. Sein Sohn holte mich mit dem Wagen ab. Wir fuhren durch ein Viertel Barodas, in dem rege gebaut wurde. Alles war in Bewegung, der Staub, die Baukolonnen, die Lieferanten, der Verkehr – die Aspirationen. Die aufstrebende Mittelklasse des Landes war ein Kind, das ungestüm mit Bauklötzen spielte, ohne darauf zu achten, ob es die Umgebung beschädigte. Mehrfach rumpelten wir über aufgerissene Straßen, fuhren an Schutthaufen entlang, überquerten einen Bach, der zugleich als Müllhalde, Kloake und Waschstelle diente. Auf der zwanzigminütigen Fahrt erblickte ich kaum etwas, was das Auge erfreut hätte. Dieses Chaos erschien häßlich und unwirtlich. Doch mein Blick war der Blick des Vorbeifahrenden, und er änderte sich, als wir stehenblieben, in einer Sackgasse, vor einem zweistöckigen Neubau. Auch hier erinnerte die Straße an die Badlands, und die wenigen Bäume schienen nur zu existieren, um die Müllhaufen zu markieren, doch kaum traten wir in das Haus, wurde ich von einer bescheidenen Ordnung empfangen.
Der Sannyasin hatte seinen Sohn, einen erfolgreichen Geschäftsmann, auf seinem spirituellen Weg ein Stück weit mitgenommen. Gemeinsam übersetzten und verlegten sie einen alten, kaum bekannten Text namens Samkshepa Sharirakam aus dem Sanskrit. Obwohl der Sohn im Berufsleben stand und keine besonderen Kenntnisse über die Materie besaß, half er seinem Vater bedingungslos. Er hatte das lange Manuskript mehrfach abgetippt, in seinem Computer gesetzt, das Buch mit seinem Geld drucken und binden lassen. »Es bereitet mir eine große Genugtuung«, sagte er, »meine Pflicht zu erfüllen, in den Dienst zu treten.« Er benutzte das Wort ›sewa‹, das mit Dienst nur unvollständig übersetzt ist, denn ›sewa‹ beinhaltet sowohl die Verantwortung, die jeder Mensch angesichts seiner Lebenspflichten trägt, als auch die Belohnung, die in der Erfüllung selbst liegt. Und dann fügte der Sohn noch ein weiteres Wort hinzu, ein Wort, ohne das die Beziehung zwischen Guru und Shishia unvollständig wäre: Gurudhan, das Opfer eines Lehrers an die Götter.
Nicht jeder Guru ist bewunderungswürdig. Es gibt Hochstaplergurus und Betrügergurus, und die Verrücktengurus wie etwa Sampath, die von zu Hause ausziehen, um sich in dem Geäst eines Guavenbaums niederzulassen. Vielleicht kann er nichts dafür, es wird gemunkelt, mütterlicherseits herrsche in der Familie eine Tradition des Wahnsinns vor, der sich der Sohn Sampath als allzu würdig erweise. Die Bevölkerung des kleinen Städtchens im Norden Indiens beginnt – mit untrüglichem Instinkt für Auserwählte – zu dem Baum zu pilgern, den Sampath bewohnt. Jeden Sinnsuchenden belohnt der Guru mit einer Perle reinsten Unfugs. Weil er in seinem früheren Leben als
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