Gebrauchsanweisung fuer Indien
fühle ich mich der Stadt Bombay – wobei der Begriff Stadt diesem überbordenden Lebensraum kaum gerecht wird – besonders verbunden. Für mich ist Bombay die lebendigste und vielfältigste Metropole, die ich kenne, und ich habe fast jeden Tag meiner knapp sechs Jahre dort mit Gewinn zugebracht. Dieses Buch ist also auch ein Buch über Bombay, nicht nur die wichtigste Stadt Indiens, sondern auch die typischste, denn keine andere Metropole beinhaltet so sehr jenes, was vielleicht allein als Indiens Wesensart gelten könnte: die Vielfalt.
Wer Indien zum erstenmal besucht, erlebt seinen größten Kulturschock gerade in den Großstädten, neben Bombay vor allem in Delhi und Kalkutta. Hier konzentriert sich die Armut, mit der jeder Reisende unweigerlich konfrontiert wird. Menschen, die auf den Bürgersteigen leben; Männer, die gewaltig beladene Karren schleppen; Mädchen, die in die Prostitution gezwungen worden sind. Und doch begegnet man einem Mut und einer Lebensfreude, die beeindrucken und manchmal beschämen. Es ist – und ich weiß, wie kitschig sich dies auf der gedruckten Seite ausmacht, als seien die Herzen der Menschen so reich wie die Basare, die man in jeder indischen Stadt vorfindet.
Besonders eng aneinander schmiegen sich die Widersprüche in Agra. Das Taj Mahal schlägt jeden Betrachter, obwohl schon tausendmal abgebildet, in seinen Bann. Doch um das Grabmal der geliebten Königsgemahlin herum erstreckt sich ein Moloch mit stinkenden Straßen, offener Kanalisation, herumstreunenden Schweinen, pockennarbigen Fassaden und taumelnden Baracken. Wer sich umschaut, erlebt ein Wechselbad der Gefühle: Ekel folgt auf Begeisterung, doch im Handumdrehen wird man wieder betört, um gleich darauf zur Verzweiflung gebracht und doch noch vor dem Sonnenuntergang wieder versöhnt zu werden. Manch einer wird mit unangenehmen Erinnerungen nach Hause zurückkehren, aber ich kenne niemanden, der diese Erfahrung missen möchte.
Die Stadt Varanasi hingegen ist der Mittelpunkt des Kosmos und die wohl älteste kontinuierlich besiedelte Stadt der Welt. Der Ort, an dem Gott sich niedergelassen hat, als er eine Familie zu gründen wünschte. Varanasi ist voller Paradoxa, die wie Flaschenzüge das Fundament der Tradition mit dem Aufbau der Moderne verbinden. Hier hat Buddha zum erstenmal gelehrt, die wohl erste Sozialrevolutionäre Lehre der Geschichte. Hier geben Yogis Unterricht in Atemtechniken, die vor viertausend Jahren mit den arischen Einwanderern von den Himalajas in die Gangesebene wanderten. Während das Bewußtsein auf das Ein- und Ausatmen konzentriert wird, um die innere Musik des Körpers zu vernehmen, drangsalieren Hupen, Klingeln, Schreie und Lautsprecher all jene, die noch nicht die Treppe der Entrückung emporgestiegen sind.
Varanasi wird oft als morbide Stadt mystifiziert, wegen des Glaubens an einen heilversprechenden Tod am Ufer des Ganges, und weil die europäischen Besucher, mit dem Tod von Haus aus nur als Tabu vertraut, den Anblick der brennenden Leichen einsaugen wie ein kulturrelativistisches Abführmittel. Doch in Wirklichkeit wird in Varanasi täglich das Leben bejaht, die Lärmkulisse ist eine Komposition, mit der sich die Stadt selbst fortschreibt, und die erregbaren Männer drängen den Touristinnen handgreiflich ein ganz persönliches Shanti auf.
Wohin gehst du? fragte mich ein junger Schlepper. In den Himmel! gab ich zur Antwort, in der naiven Hoffnung, ihm damit eine Abfuhr erteilt zu haben. Bevor du in den Himmel gehst, rief mir der junge Mann hinterher, verbringe doch eine Nacht in meinem Hotel.
Indien läßt einen immer wieder spüren, wie wenig Zeit man auf Erden hat. Es erscheint endlos. Nicht nur verfügt es über eine immense Dichte an Geschichte und eine Bibliothek, die eine ganze Brigade von Lesern nicht bewältigen könnte, es erstreckt sich über eine Fläche größer als die der Europäischen Union, und es vereint eine immense geographische, sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt. Kaum etwas verbindet einen Christen aus dem Nordosten, einen landlosen Unberührbaren (Dalit) aus Bihar, einen wohlhabenden Parsen aus Bombay und einen moslemischen Fischer aus Kerala miteinander. Außer dem fiktiven Gebilde einer Nation, das sich trotz kolonialer Herkunft und blutiger Trennung von Pakistan im Jahre 1947 als erstaunlich stabil erwiesen hat. Zwar hat die Gründung dreier neuer Bundesstaaten in den letzten Jahren den Kräften der regionalen Divergenz Tribut gezollt, aber im
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