Gebrauchsanweisung fuer Indien
Lehrer verlangen nur zwanzig Dollar pro Stunde, während ihre amerikanische Kollegen bis zu hundert Dollar in Rechnung stellen. Und natürlich kommt es den Indern zugute, daß sie als naturwissenschaftliche und mathematische Asse gelten. In vielen Klassen sitzen auch Kinder von ausgewanderten indischen Familien, sagt Dhananjay. Oft sind sie die besten. Das spricht sich herum.
Zu viele Lastwagen (Gestank), zu viele Eselskarren (Rückständigkeit), zu viele Busse (Gefahr), zu viele Kühe (Heiligkeit), zu viele Fahrradfahrer (Schicksalsergebenheit) und zu viele Autorikschas (Gestank, Rückständigkeit, Gefahr und Schicksalsergebenheit zugleich) – Andheri, einer der dynamischen Vororte Bombays, dicht besiedelt und schwer industrialisiert, entspricht allen Erwartungen an Indien. Es ist laut, hektisch, chaotisch, schmutzig. Doch wenn man von der Hauptstraße in eine breite Zufahrt abbiegt und es schafft, die strengen Kontrollen am Eingangstor zu überwinden, findet man sich in einer anderen Welt wieder: glitzernde Bürogebäude, blitzsaubere Straßen, gepflegte Grünanlagen und klimatisierte Büros, wie man sie in Taiwan oder Kalifornien finden könnte. SEEPZ heißt diese Welt ohne Smog, Lärm und Bettler. Würden nicht Frauen im Sari vorbeieilen, könnte man zweifeln, ob SEEPZ sich tatsächlich einer indischen Exportinitiative verdankt.
Industrieparks wie dieser, manchmal zollbefreit und stets steuerbegünstigt, beherbergen in Bangalore, Hyderabad und Bombay die boomende indische Software-Industrie, die seit 1991 um mehr als fünfzig Prozent pro Jahr wächst. Dieser Erfolg wird von knapp tausend Firmen getragen, die insgesamt dreihundertfünfzigtausend Spezialisten beschäftigen. Der Branchenverband Nasscom erwartet, daß das Exportgeschäft im Jahr 2008 rund fünfzig Milliarden Euro umsetzen wird. Wie im Rausch stürzt sich die von ewigen Krisen geschüttelte Nation auf den Goldesel Software: endlich ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Bei Natu Patel fällt man mit der Tür direkt in die Abteilungen Verwaltung, Entwicklung und Vertrieb – sein Erfolg hat noch keinen Ausdruck in schicken Büroräumen gefunden. In einem langgestreckten Zimmer sitzen alle sechs Mitarbeiter nebeneinander, hinter Computern und Telefonen. Natu Patel leitet eine kleine Firma, die er vor einigen Jahren zusammen mit einem Freund gegründet hat. Im Gegensatz zu den Giganten, die an der Börse gehandelt werden und gänzlich vom Export abhängig sind, entwickelt sein Unternehmen Software für den indischen Markt. Für ihn und seinen Partner, beide studierte Betriebswirte, war der Einstieg in die Computerbranche ein ziemliches Wagnis. »Wir hatten keine Ausbildung und keine Erfahrung. Zudem mangelte es uns an Investitionskapital. Ich hatte zuvor acht Jahre lang für eine Unternehmensberatung gearbeitet, die unter anderem auch im Computerbereich tätig war. Deshalb sind wir bis letztes Jahr absichtlich klein geblieben. Wir haben es vorgezogen, zu beobachten und zu lernen.« Natu Patel schielt nicht auf den internationalen Markt. Ausländische Kunden benutzen indische Lieferanten meist nur zur Datenerfassung oder für andere ausführende Arbeiten, als verlängerte Werkbank gewissermaßen. Gerade einmal einige Dutzend Firmen in Indien entwickeln tatsächlich Software für Kunden im Ausland.
Ein Mythos des sicheren Aufstiegs umgibt die Informatik, genährt von den unzähligen Berichten in den Medien über Landsleute, die es im Silicon Valley »geschafft« haben. Bei Umfragen geben die meisten Schüler als gewünschtes Studienfach Computer Sciences an. An allen Universitäten des Landes verzeichnet das Fach die höchsten Einschreibquoten. Die universitäre technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung genießt seit den Tagen von Jawaharlal Nehru höchste Priorität, auf Kosten der Basiserziehung (64 Prozent Alphabeten). Mit großem Aufwand wurde die technologische Unabhängigkeit angestrebt. Indische Ingenieure überschwemmten in den 80er und 90er Jahren Silicon Valley. 1996 ging fast die Hälfte der insgesamt fünfundfünfzigtausend begrenzten Arbeitsvisa der US-Regierung an ›high-tech-Kulis‹ aus Indien. In den Räumen manch eines Start-Up-Ventures roch es dezidiert nach Masala (siehe Kap. 5).
Die Absolventen der renommierten Universitäten streben danach, für internationale Konzerne zu arbeiten, träumen davon, ins Ausland, vor allem in die USA, zu ziehen, wo sie mehr Geld, mehr Chancen und fortschrittlichere Technologien vorfinden. Wenn
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