Gebrauchsanweisung für Mecklenburg-Vorpommern und die Ostseebäder
Besprechers kaum möglich war. Mein Bruder behauptete damals, dass ein Familienmitglied sterben würde, sobald ich einen der Sprüche verstehen könne, dass es ein großes Unglück gäbe. Fortan gab ich mir die größte Mühe, nie genau hinzuhören, und prompt verstand ich vieles. Ein Spruch gegen Warzen zum Beispiel geht so: De Wratt und de Wied, de leden to striet. De Wratten verschwunn, de Wied gewunn (Die Warze und die Weide, die lagen im Streit. Die Warzen verschwanden, die Weide gewann) .
Diese Heimlichtuerei, das beschützte Weitergeben von vertraulichen Informationen, ist in Mecklenburg-Vorpommern gang und gäbe. Nie hätte mein Großvater, solange er lebte, seine Fischrezepte verraten. Wo der goldene Sarg mit dem Leichnam Störtebekers vergraben ist, das weiß immer nur ein einziger Fischer. Es ist ihm verboten, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Erst kurz vor seinem Tod muss er sein Wissen weitergeben, sodass immer einer, aber nur einer, über den Ort des Grabes Bescheid weiß.
Versteinerte Seeigel werden in Bienenstöcke gelegt, auf Koteletts wird uriniert, um sie anschließend zu vergraben (soll gegen Asthma helfen), und wenn eine schwarze Katze von links nach rechts läuft, erstarren alle Meck-Pommer zur Salzsäule. Mein Schatz an Sprichwörtern und Aberglaube ist größer als mein Repertoire an Weihnachtsgedichten.
Der Kranich bringt Glück, der Kormoran Pech, der Storch die Kinder – es ist so schön einfach. Und an irgendwas muss man ja glauben, wenn man’s hier schon nicht so mit dem lieben Herrn hat. Wer nicht im Himmel bei den Vögeln sein Glück sucht, sondern auf Erden, muss statt einen Kranich zu sehen, einen Hühnergott finden, den meck-pommerschen Glücksbringer schlechthin. Jeder Meck-Pommer hat einen auf dem Fensterbrett, vor der Eingangstür oder in seinem Regal liegen, einen schwarz-weißen Feuerstein mit einem Loch. Hühnergötter sind seit den Sechzigern in der ehemaligen
DDR
populär, im gesamtdeutschen Duden erschien das Wort jedoch erstmals im Jahr 2000.
Ganz viel von diesem Glück auf Erden findet sich zwischen Mukran und Prora, im Nordteil der Schmalen Heide auf Rügen. Ein beliebtes Ausflugsziel ist dort das etwa zwei Kilometer lange und 200 Meter breite Steinerne Meer. Eine große Ansammlung von Feuersteinen, die vor dreitausendfünfhundert bis viertausend Jahren aus den Kreidefelsen gespült worden sind. Im Herbst blüht zwischen den vielen Steinen violettes Heidekraut und links und rechts davon stehen die Wacholderbüsche tiefgrün. Da es sich um ein Naturschutzgebiet handelt, ist das Mitnehmen der Feuersteine, und also auch der Hühnergötter, untersagt. Man halte sich besser daran, um die Götter nicht zu entzürnen. Wer dennoch einen dieser Steine mitnimmt, wird sehen, was er davon hat:
PECH
!
Ebenfalls auf jeder Fensterbank eines Meck-Pommers: der Donnerkeil, auch Teufelsfinger genannt. Dabei handelt es sich um ein versteinertes Skelettteil von urweltlichen Kopffüßlern. Die alten Mönchguter von Rügen behaupteten, dass zur Zeit ihrer Großeltern nach großen Gewittern Tausende von diesen fingerartigen Gebilden auf den Äckern gelegen hätten. Das deckt sich mit dem einst verbreiteten Volksglauben, sie entstünden durch Blitzschlag. Den Teufelsfingern werden die wunderbarsten Heilkräfte zugeschrieben.
Die Wochentage im Aberglauben oder : Erklärungen und Ausreden für meck-pommersches Verhalten :
Montags sollte man weder ein Geschäft beginnen noch verreisen. Beides geht an diesem Tag schief. Und: Rauer Montag, glatte Woche.
Dienstags ändert sich das Wetter.
Mittwochs darf man an keinem Flachs arbeiten (ich sag’s nur, falls Sie gern am Flachs arbeiten), ist aber wenigstens ein guter Pflanztag.
Wenn donnerstags das Korn blüht, sollte der Bauer nach Sonnenuntergang schweigend mit Handschuhen auf das Feld gehen und rückwärts gegen den Lauf der Sonne schreiten. An jeder Ecke sollte er dabei einen Halm pflücken, daraus ein Bündel binden und es unter dem Dach aufbewahren, damit weder Sonne noch Mond darauf scheinen kann – und dann fressen die Vögel nicht von den Ähren. Außerdem bitte nur donnerstags Erbsen essen. (Keine Ahnung warum. Weil das eben so ist .)
Fridag hett sin eegen lun (Freitag hat seine eigene Laune). Alle freitags um zwölf Uhr Geborenen können mehr sehen als andere. Und es ist natürlich der klassische Unglückstag. Supertipp: Wer jeden Freitag seine Nägel still (natürlich) beschneidet, bekommt keine Zahnschmerzen. Nicht
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