Gebrauchsanweisung für Mecklenburg-Vorpommern und die Ostseebäder
das fest montierte Fernglas. Putzdirmaldienase , sagt ein Mann zu seiner Tochter, die durch dieses Fernglas schaut, aber die 50 Cent nicht bekommt, um auch etwas dadurch zu sehen. Eine alte kleine Japanerin nimmt sich fest vor, wenigstens ein deutsches Wort mit in ihre Heimat zu nehmen: Puzdimadinas, heiße es, was es wolle.
Die Amerikaner essen die norddeutsche Variante ihres heiß geliebten Hamburgers, ein Matjesbrötchen, und die Japaner, die ebenfalls Matjesbrötchen essen, glauben, das sei German Sushi.
Selbstverständlich nahmen alle an, das wäre eine regionale Spezialität, aber das ist der Tag der Täuschungen – Rollmops ist eine binnenländische Erfindung. Gestärkt, kommt nun den ersten Touristen das alles spanisch vor. Und tatsächlich werden sie nach der Heimkehr vor ihren Fotos sitzen, sie neben das Gemälde halten, hin und her drehen, stundenlang, tagelang und das Gefühl haben, ganz nah dran gewesen zu sein, aber mehr nicht. Mehr nicht und dafür der ganze Aufriss. Und die Moral von der Geschicht: Die Chalk Cliffs on Rugen gibt es nicht.
Wer die circa sieben Kilometer von Sassnitz über den Hochuferweg zum Königsstuhl nicht laufen möchte oder kann, obwohl diese Wanderung unbedingt empfehlenswert ist, sondern wer nur mal für sechs Euro einen Blick vom Königsstuhl werfen will, der fahre nach Hagen/Lohme, parke dort und schlendere die drei, für den öffentlichen Verkehr gesperrten, Kilometer durch die Buchenwälder der Stubbenkammer, passiere einen kleinen See und eine alte slawische Wallanlage. Wem auch das noch zu umständlich ist, der nehme bitte den Shuttlebus! Und wer auch diesen Aufwand scheut, googelt einfach Chalk Cliffs on Rugen . So ähnlich sieht das da bei der Stubbenkammer nämlich aus.
Prora
Das Schöne an Mecklenburg-Vorpommern ist, dass man all den Kitsch, den die Natur für einen bereithält, nicht ungebrochen hinnehmen muss. Wenn im knallblauen Sommerhimmel die weißen Möwen kreisen, sich am Horizont zwei Segelboote begegnen und schon zu erahnen ist, dass am Ende des Tages wieder eine blutrote Sonne hinter einer schwarzen Bootssilhouette ins Meer plumpsen wird, dann hält Mecklenburg-Vorpommern noch immer Möglichkeiten für Sie bereit, sich vor einer fiesen, durch derart kitschige Bilder ausgelösten Melancholie zu schützen. Und gemeint sind nicht nur die paar Wellen, die sich nicht an die Kitsch-Abmachung halten und Disharmonie stiften, indem sie über die Sandburg eines Kindes schwappen und dat lütte Ding so zum Weinen bringen. Da ist zum Beispiel der Koloss von Prora . Herr Klotz ließ selbigen auf einer Strecke von 4,5 Kilometern errichten. Das monströse Gebäude war der Nazis bitterer Ernst. Sie hatten es sich ganz hübsch vorgestellt: zehntausend Zimmer mit Meerblick für ihre Kraft durch Freude Organisation (
KdF
). In Prora auf Rügen sollte das weltgrößte Seebad entstehen. Die Idee des Seebades ist vom Führer selbst. Da der deutsche Arbeiter sich in den vorhandenen Bädern nicht vollständig wohlfühlt, soll hier ein neues Riesenbad mit 20
000 Betten errichtet werden. Diese Anlage müsse das Schönste werden, was man sich denken könne, und der schöpferischen Phantasie des Baukünstlers würden bei dieser Aufgabe keine Grenzen gesetzt . Clemens Klotz legte sich ins Zeug und erhielt auf der Weltausstellung in Paris für den Entwurf seines Koloss’ prompt einen Grand Prix. Fünf aneinandergebaute Blöcke, sechs Stockwerke hoch und jedes der rund zehntausend Zimmer mit 12,5 Quadratmetern. 1936 wurde mit dem Bau begonnen. Luftwaffenhelferinnen wurden hier unter anderem ausgebildet, ein Teil diente als Lazarett und auch mal als Unterkunft für ausgebombte Hamburger. Später wurde der Koloss von der Nationalen Volksarmee genutzt. Ihren Angehörigen stand der südlichste Teil der Anlage als Erholungsheim, Kinderferienlager und Ferienort zur Verfügung und erfreute sich großer Beliebtheit.
Nach der Wende übernahm die Bundeswehr, verließ Prora jedoch Anfang der Neunzigerjahre wieder. Seit 1993 ist das geschichtsträchtige Gebiet frei zugänglich. Immer wieder erschien ein Investor wie die heilige Madonna und verkündete den Traum eines Hotels oder einer Jugendherberge, plante Mietwohnungen oder eine Sportanlage. Derweil bröckelte das Baudenkmal munter vor sich hin, wurde grauer und gelbgrauer, die Fenster stumpf und stumpfer und gingen schließlich zu Bruch. In den umliegenden Ostseebädern störte man sich daran wenig, so blieben wenigstens die
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