Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg
äußerst überrascht sein, dass es tatsächlich noch Gegenden gibt, in denen die Wochentage nicht abgeschafft sind. In Potsdam weiß jeder, wann Montag ist. Da ist plötzlich wieder Lärm auf der Straße. Da steht man wieder im Stau auf der Humboldtbrücke. Beim Bäcker gibt es das gute Vollkornbrot erst nachmittags. Lokale sind geschlossen. Es regt sich das lähmende Gefühl einer neuen langen Arbeitswoche. Nicht, dass am Ende dieser Woche das intensive Gefühl für den Wochentag verschwinden würde, es wird nur anders. Am Freitag ist die fies herankriechende Stille des Samstags bereits überall zu spüren. Und da sich am Sonntag die Bewohner geschlossen an eines ihrer vielen Seeufer oder zum heimischen Sonntagsbraten begeben (Biofleisch), ist auf der Straße kein Mensch. Niemand außer deprimierenden Busladungen voller Touristen. Wie neidisch bin ich jedes Mal, wenn ich in Dresden bin. Oder Düsseldorf. Oder München. Das sind auch Landeshauptstädte! Aber solche, die die Vorsilbe Groß- vor der Stadt mit Stolz tragen. Im Fall von Potsdam gibt es allerdings eine Entschuldigung. Die Stadt hat es schwer. Sie ist Hauptstadt eines Bundeslandes, das mittendrin ein Loch hat. Es zieht hier gewissermaßen durch die Mitte. Wenn Sie sich eine Landkarte ansehen, werden Sie feststellen, dass es dort, wo gewöhnlich das Zentrum eines Landes liegt, nur einen andersfarbigen Fleck gibt. Dieser Fleck heißt Berlin. (Um sich an dieser ungewohnten Zugluft, die aus dem Loch in der Mitte pfeift, nicht zu erkälten, bekamen die Beamten aus Nordrhein-Westfalen, die nach der Wende Brandenburgische Ministerien besetzten, gleich eine sogenannte »Erschwerniszulage« gegen Erkältung …) Potsdam klammert sich verzweifelt an den Rand dieses Lochs. Weil man fürchtet, mit der Weltstadt nebenan sowieso nicht mithalten zu können, wird der Versuch gar nicht erst gewagt. Man duckt sich aus Furcht und nennt es Bescheidenheit. »Ist ja nur Potsdam« ist die Generalantwort auf alle Kritik, die man am gemächlichen Nachtleben, am dürftigen Kursangebot des Fitnessstudios, mäßigen Theaterinszenierungen oder an der Qualität von Restaurants vorzubringen hätte. »Ist ja nur Potsdam.« Begütigend. Entschuldigend. Beschwichtigend.
Im Mittelalter sah die Lage anders aus. Berlin war ein Nichts. Blanke Leere. Brandenburg dagegen hatte jede Menge Großstädte. Oder doch zumindest vier. Die Kriterien mögen andere gewesen sein. Man erkannte eine Großstadt beispielsweise an ihren Kirchen, dem Stadtrecht, ihrer Nutzung als Bischofs- oder Markgrafensitz und daran, dass das Vieh nicht mehr wild durch die Straßen tobte. Brandenburg an der Havel konnte mit seinen Kirchen und dem Dom diese Kriterien locker erfüllen. Es hatte außerdem den Roland, das ritterliche Sinnbild der Stadtrechte, der dafür einstand, dass es eine selbstständige, wohlhabende Stadt mit eigener Gerichtsbarkeit war. Auch Perleberg hatte einen Roland, war einmal das wirtschaftliche Zentrum der Prignitz, eine der reichsten Städte der Mark Brandenburg und wie Frankfurt/Oder im 15. Jahrhundert Mitglied der Hanse. Frankfurt/Oder lag an einer wichtigen Fernhandelsstraße und hatte Anfang des 16. Jahrhunderts bereits eine Universität, an der neunhundertfünfzig Akademiker lehrten, mehr als damals an jeder anderen deutschen Universität, unter ihnen Ulrich van Hutten, und dem Vieh wurde das freie Herumlaufen untersagt. Wittstock an der Dosse hatte eine Burg, auf der die Havelberger Bischöfe wohnten. Heute wird in Wittstock an der Dosse jährlich die Rosenkönigin gewählt. Perleberg hat noch immer das schönste Wappen des nördlichen Brandenburgs, ein achtstrahliger goldener Stern von Perlen umkränzt, und die Stepenitz, die durch die Innenstadt fließt.
Rosen. Sterne. Die Stepenitz. Sie sehen, wie schnell das Ländliche sich wieder breitmacht. Brandenburg an der Havel wäre gern eine Großstadt. Und Frankfurt/Oder? Frankfurt/Oder machte seine Universität als »Europa-Universität Viadrina« wieder auf, mit einer Rektorin, die beinahe Bundespräsidentin geworden wäre. Aber eben nur beinahe.
Der ewige Vorposten
Schreibe mir nur ein Wort, … und ich führe Dich hierher, ins irdische Paradies, denn ich versichere Dir, es ist ein Paradies.
(Königin Luise an Friedrich Wilhelm III. beim Versuch, ihn zur Rückkehr nach Potsdam zu bewegen)
Meine früheste Erinnerung an Potsdam ist eine endlose staubige Allee. Ich laufe mit weißen Kniestrümpfen und in Sandalen diese Allee
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